Donnerstag, 24. Dezember 2015

Jede(r) die Gefängniswärter*innen der anderen! - Texte der Gefangenenbewegung 3: Thematisierung der Delinquenz(Auszüge)

1980 erschien der Text „Thematisierung der Delinquenz“,  und der uns heute noch – 35 Jahre später – immer noch bedrückend aktuell erscheint. Zeit also wieder mal, diesen Text zu veröffentlichen. Wir haben ihn verkürzt, weil manche Textstellen ( z.b. im Zusammenhang mit den RAF-Gefangenen) nicht mehr aktuell bzw. (in Bezug auf die damaligen Knastgruppen) nicht mehr in den entsprechenden Zusammenhängen zu verstehen sind. Interessierte schauen bei : STRAFZEIT. Vom Ausgrenzen und Einsperren. Darmstadt 1980) auch mit einem höchst interessanten Artikel von P.P.Zahl „Normalvollzug für alle“.









                      Everbody is a criminal --- Die Crux mit den Spaltetiketten


Die Geschichte des Klassenkampfes war und ist immer auch die Geschichte von Gesetzesbruch. Von der französischen Revolution über die russische Oktoberrevolution bis zu den heutigen Befreiungskämpfen in Lateinamerika, in der 3. Welt. Von Robespierre über Lenin bis zu Che Guevara. Von Max Hölz über Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Toller, Mühsam, Eisner, Levine & Co. Bis zu den Arbeitsemigranten bei Ford (1973).
 Kein in den jeweiligen Strafgesetzbüchern aufgeführtes Delikt fehlt in dieser Geschichte.

Diebstahl ist ebenso vertreten wie Urkundenfälschung, Betrug wie Einbruch. Die Spanne reicht von Amtsanmaßung bis Mord. Delinquenz-Mythos, Kriminalitäts-Kainsmal mit dem ihm anhaftenden Pariageruch aber führten immer dazu, dass durch militante, strafgesetzbrechende Gegenwehr in die Maschinerie staatlicher Saktionsinstitutionen Geratene als „politische Gefangene“ bezeichnet wurden. Sie erhielten diesen Status von Gesinnungsgenoss*innen zugewiesen und – bestanden selbst auf ihn(Schon Gramsci beklagte sich, als politischer Gefangener „mit den gewöhnlichen Kriminellen“ zusammengesperrt worden zu sein). Selbst in den Konzentrationslagern der deutschen Faschisten grenzten sich die „politischen“ extrem von den „Asozialen“ ab – In den letzten Jahren lassen sich ähnliche Beispiele bei manchen RAF-Aktivisten finden, zuletzt ließ publikumswirksam ein (Ex-) „Kriegs“gefangener seine Distanz zu den „Kriminellen“ und sein Befürworten von Strafe und Knast für diese freien „undogmatischen“ Raum.

Ausgerechnet jene, aufrechten, integren Genoss*innen pausenlos mit stalinistischem Gegeifre und Gesabbere das Counter-insurgency-Spitzhütchen aufsetzende, alle Kritiker*innen ihrer blinden Kamikaze-Praxis mit dem Verbal-Stilett „Staatsschutzlinke“ erdolchenden selbsternannten Avantgarden, besitzen die Frechheit, anderen Gefangenen die Menschlichkeit abzusprechen. Gefangenen, deren sie auch dank eigener, elitärer Abgrenzungshaltung (Kleingruppeniso) oft nur mehr oder weniger aus der Ferne ansichtig wurden……
…..Mit denen dürfen und wollen die Helden nicht gleichgesetzt werden. Zumal schon Justitia versucht, mit allen Mitteln, sie zu Kriminellen zu stempeln. Nur, warum versucht sie dies? Weil die Trennung in Gut und Böse, brave Bürger*innen und zu Ächtende, ihre ureigne Erfindung ist, den Herrschaftsinteressen dient. Welch Treppenwitz des Klassenkampfs, wenn selbst Linke darauf hereinfallen, die Stigmatisierung von Menschen zumindest indirekt gutheißen, fördern und stützen durch die eigenen Versuche, nicht als Kriminelle zu gelten.







Welch Trauerspiel, wenn die Unterscheidung, verbal und praktisch vollzogen, in unpolitische und normale Gefangene den institutionalisierten Ausgrenzungsstrategien objektiv zuarbeitet. Und beileibe nicht nur ungewollt Die Abgrenzung geschieht bewusst, ist gewollt, »Man« will nichts mit „den Kriminellen“ gemein haben,  dünkt sich Bessres, hält diese - das linke Kleinbürgerhirn ausgefüllt mit asozialen Werturteilen - in der Tat für Abschaum, für Pack, für Pestilenz und Gottseibeiuns. (»Man« gibt's nur ungerne zu, verrät sich aber wieder und wieder mit der Praxis).

 Nicht alle wenigstens. Manche der Undogmatischen nicht - wenn auch noch genug bleiben. Aber allemal die selbsternannten Avantgarden jeder Richtung und Couleur, deren Avantgarde - und Sendungsbewusstsein linientreuen Dogmatismus - nicht umgekehrt! - voraussetzt.

Wozu brauchen „wir eine Kategorie Kriminalität“? Wir, Linke, Alternative aller Strömungen, Richtungen, sämtlicher Rottöne, brauchen sie nicht nur nicht, wir dürfen sie nicht brauchen! Sie ist Herrschaftsbegriff, ist Ghettomauerstein, ist Zuchtrute. Was unterscheidet denn die so genannten politischen Gefangenen von den so genannten unpolitischen, sozialen? Das edle Bewusstsein da, bewusstlos egoistisches Handeln dort? Idealismus einerseits, systemkonforme Ellbogenmentalität andererseits?



Warum - wenn auch ins andere Extrem des typisch deutschen Entwederoder dabei fallend - wird von den Undogmatischen seit Ewigkeiten die Forderung »Politik in der 1. Person« erhoben? Weil der Mensch Subjekt ist. Und genau darum gibt es die Top-Idealist(inn)en nicht! Wer aus politischem Bewusstsein heraus handelt, tut dies immer auch für sich selbst. Nie nur für die ominösen Massen, denen eine bessere Welt beschert werden soll. Wer anderes behauptet, betreibt Rechtfertigungsideologie, um Heldenmythen stricken zu können. Um sich abzugrenzen von anrüchigem Kriminellenetikett.
Motto: nicht weil wir leben wollen, handeln wir auch kriminell, nein, um alle Welt zu beglücken, sehen wir uns dazu gezwungen.

Ist nicht klar, welche klägliche Kapitulation vor institutionalisierter Randgruppenstrategie, Feindbild- und Sündenbockproduktion diese Rechtfertigungsideologie impliziert? Und welche Heuchelei? Nicht klar, leider. Nun denn:






Schwarzfahren, eine Massenpraxis bei den Linken, Autonomen – kriminell nach herrschaftlicher Definition! Erfüllt den StGB-Tatbestand der „Fahrgelderschleichung“, sprich: Betrug ! Warum wird da massenhaft schwarzgefahren? Taktisch-politisches Kampfmittel, um die Monopole der Verkehrsbetriebe zu untergraben? Nicht auch – oder nur? – um schlicht und ergreifend Geld zu sparen?

ABER  - so ist zu hören, „die normalen Gefangenen schädigen mit ihren Handlungen andere, schädigen nur zu oft ihre eigenen Klassenangehörigen“. Ihre Klassenangehörigen? Die sie ausgrenzten, wie es die Ober-Kriminellen – die einzigen und wirklich Asozialen sitzen in der Gesellschaftspyramide immer oben – befahlen; mit den Fingern auf sie zeigend, zu kompensieren ihre eigenen Kaputtheiten?
Das „Lumpenproletariat“ ist eine eigene Klasse – geworden. Eine Unter-Unterklasse, gezwungen zum Unter-Unterklassendasein. Sollten sie Rücksicht nehmen auf ihre Mitunterdrücker, von denen sie nichts als Verachtung erfahren? Gar den sie befreien wollenden Linken um den Hals fallen, deren zu viele ihren Springer klammheimlich im Kopf, die Kleinbürgermoral im Zeigefinger tragen? Bliebe noch zu fragen, wen schädigen die Schwarzfahrer? Was geschieht im Kapitalismus mit Unternehmensverlusten, privaten wie staatlichen? Die werden alle sozialisiert, sprich: via höherer Preise umgelegt auf die Allgemeinheit. Ebenso wie die Kosten des linkerhand gleichfalls längst als Massensport und – hobby praktizierten Kaufhausdiebstahls.

Und die hochfürnehmen Herrschaften Salon-Marxisten, mit Uni-Dozentur, Kilometerpauschale, subventioniertem Mittagstisch? Die klauen nicht im Kaufhaus, haben schwarzfahren nicht nötig, bezeichnen ihrerseits solche „Freak-Praktiken“ als kriminell. Werden aber höchst ungerne an die aus BaFÖG-Zeiten stammenden teuren Fachbücher in ihren Privatbibliotheken erinnert, bei Montanus, in bürgerlichen Büchereien – allzu oft auch in linken Buchhandlungen geklaut usw.
Kurzum: Wen die bürgerliche Strafjustiz als Einbrecher*in, Dieb, Betrüger*in, damit als Kriminelle etikettiert – Delikte, die den Hauptanteil in den offiziellen Kriminalitätsstatistiken ausmachen (80-85 %) – der ist nicht weniger politisch als Guerillaangehörige, schwarzfahrende, „einklaufende“ Linke; diese nicht weniger kriminell als die Geächteten.

Die Konsequenz dieser Tatsache liegt auf der Hand.
Weg mit den diskriminierenden Stacheldrahtbegriffen.
Schluss mit akrobatischen verbalen Verrenkungen wie „normale, soziale Gefangene und so weiter. Darin wird nur der Versuch sichtbar, um jeden Preis eine konstruierte Grenze zu bewahren. Voraussetzung für Gefangenenarbeit, wäre die Abschaffung dieser Grenze, Aufhebung des Herrschaftsetiketts Kriminalität, nicht verzweifeltes Bemühen um einen gebührenden Sicherheitsabstand gegenüber diesem Pariazeichen.
Voraussetzung letztlich, um alle Internierten als Menschen zu sehen, denn reduziert auf die Funktion Gefangener.

„Der Gefangene ist mehr als nur Gefangener, eben ein Individuum, mit einem Ensemble sozialer und emotionaler Bedürfnisse“ --- daraus folgt:

wenigstens eine Antiknastbewegung sollte aus dieser Erkenntnis auch in ihrem Handeln Rechnung tragen --- denn an den Schlüsseln für eine verknastete Gesellschaft wird eifrig weiter gefeilt – alle ihre eigenen und der Nächsten Gefängniswärter*in.


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