Donnerstag, 24. Dezember 2015

Jede(r) die Gefängniswärter*innen der anderen! - Texte der Gefangenenbewegung 3: Thematisierung der Delinquenz(Auszüge)

1980 erschien der Text „Thematisierung der Delinquenz“,  und der uns heute noch – 35 Jahre später – immer noch bedrückend aktuell erscheint. Zeit also wieder mal, diesen Text zu veröffentlichen. Wir haben ihn verkürzt, weil manche Textstellen ( z.b. im Zusammenhang mit den RAF-Gefangenen) nicht mehr aktuell bzw. (in Bezug auf die damaligen Knastgruppen) nicht mehr in den entsprechenden Zusammenhängen zu verstehen sind. Interessierte schauen bei : STRAFZEIT. Vom Ausgrenzen und Einsperren. Darmstadt 1980) auch mit einem höchst interessanten Artikel von P.P.Zahl „Normalvollzug für alle“.









                      Everbody is a criminal --- Die Crux mit den Spaltetiketten


Die Geschichte des Klassenkampfes war und ist immer auch die Geschichte von Gesetzesbruch. Von der französischen Revolution über die russische Oktoberrevolution bis zu den heutigen Befreiungskämpfen in Lateinamerika, in der 3. Welt. Von Robespierre über Lenin bis zu Che Guevara. Von Max Hölz über Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Toller, Mühsam, Eisner, Levine & Co. Bis zu den Arbeitsemigranten bei Ford (1973).
 Kein in den jeweiligen Strafgesetzbüchern aufgeführtes Delikt fehlt in dieser Geschichte.

Diebstahl ist ebenso vertreten wie Urkundenfälschung, Betrug wie Einbruch. Die Spanne reicht von Amtsanmaßung bis Mord. Delinquenz-Mythos, Kriminalitäts-Kainsmal mit dem ihm anhaftenden Pariageruch aber führten immer dazu, dass durch militante, strafgesetzbrechende Gegenwehr in die Maschinerie staatlicher Saktionsinstitutionen Geratene als „politische Gefangene“ bezeichnet wurden. Sie erhielten diesen Status von Gesinnungsgenoss*innen zugewiesen und – bestanden selbst auf ihn(Schon Gramsci beklagte sich, als politischer Gefangener „mit den gewöhnlichen Kriminellen“ zusammengesperrt worden zu sein). Selbst in den Konzentrationslagern der deutschen Faschisten grenzten sich die „politischen“ extrem von den „Asozialen“ ab – In den letzten Jahren lassen sich ähnliche Beispiele bei manchen RAF-Aktivisten finden, zuletzt ließ publikumswirksam ein (Ex-) „Kriegs“gefangener seine Distanz zu den „Kriminellen“ und sein Befürworten von Strafe und Knast für diese freien „undogmatischen“ Raum.

Ausgerechnet jene, aufrechten, integren Genoss*innen pausenlos mit stalinistischem Gegeifre und Gesabbere das Counter-insurgency-Spitzhütchen aufsetzende, alle Kritiker*innen ihrer blinden Kamikaze-Praxis mit dem Verbal-Stilett „Staatsschutzlinke“ erdolchenden selbsternannten Avantgarden, besitzen die Frechheit, anderen Gefangenen die Menschlichkeit abzusprechen. Gefangenen, deren sie auch dank eigener, elitärer Abgrenzungshaltung (Kleingruppeniso) oft nur mehr oder weniger aus der Ferne ansichtig wurden……
…..Mit denen dürfen und wollen die Helden nicht gleichgesetzt werden. Zumal schon Justitia versucht, mit allen Mitteln, sie zu Kriminellen zu stempeln. Nur, warum versucht sie dies? Weil die Trennung in Gut und Böse, brave Bürger*innen und zu Ächtende, ihre ureigne Erfindung ist, den Herrschaftsinteressen dient. Welch Treppenwitz des Klassenkampfs, wenn selbst Linke darauf hereinfallen, die Stigmatisierung von Menschen zumindest indirekt gutheißen, fördern und stützen durch die eigenen Versuche, nicht als Kriminelle zu gelten.







Welch Trauerspiel, wenn die Unterscheidung, verbal und praktisch vollzogen, in unpolitische und normale Gefangene den institutionalisierten Ausgrenzungsstrategien objektiv zuarbeitet. Und beileibe nicht nur ungewollt Die Abgrenzung geschieht bewusst, ist gewollt, »Man« will nichts mit „den Kriminellen“ gemein haben,  dünkt sich Bessres, hält diese - das linke Kleinbürgerhirn ausgefüllt mit asozialen Werturteilen - in der Tat für Abschaum, für Pack, für Pestilenz und Gottseibeiuns. (»Man« gibt's nur ungerne zu, verrät sich aber wieder und wieder mit der Praxis).

 Nicht alle wenigstens. Manche der Undogmatischen nicht - wenn auch noch genug bleiben. Aber allemal die selbsternannten Avantgarden jeder Richtung und Couleur, deren Avantgarde - und Sendungsbewusstsein linientreuen Dogmatismus - nicht umgekehrt! - voraussetzt.

Wozu brauchen „wir eine Kategorie Kriminalität“? Wir, Linke, Alternative aller Strömungen, Richtungen, sämtlicher Rottöne, brauchen sie nicht nur nicht, wir dürfen sie nicht brauchen! Sie ist Herrschaftsbegriff, ist Ghettomauerstein, ist Zuchtrute. Was unterscheidet denn die so genannten politischen Gefangenen von den so genannten unpolitischen, sozialen? Das edle Bewusstsein da, bewusstlos egoistisches Handeln dort? Idealismus einerseits, systemkonforme Ellbogenmentalität andererseits?



Warum - wenn auch ins andere Extrem des typisch deutschen Entwederoder dabei fallend - wird von den Undogmatischen seit Ewigkeiten die Forderung »Politik in der 1. Person« erhoben? Weil der Mensch Subjekt ist. Und genau darum gibt es die Top-Idealist(inn)en nicht! Wer aus politischem Bewusstsein heraus handelt, tut dies immer auch für sich selbst. Nie nur für die ominösen Massen, denen eine bessere Welt beschert werden soll. Wer anderes behauptet, betreibt Rechtfertigungsideologie, um Heldenmythen stricken zu können. Um sich abzugrenzen von anrüchigem Kriminellenetikett.
Motto: nicht weil wir leben wollen, handeln wir auch kriminell, nein, um alle Welt zu beglücken, sehen wir uns dazu gezwungen.

Ist nicht klar, welche klägliche Kapitulation vor institutionalisierter Randgruppenstrategie, Feindbild- und Sündenbockproduktion diese Rechtfertigungsideologie impliziert? Und welche Heuchelei? Nicht klar, leider. Nun denn:






Schwarzfahren, eine Massenpraxis bei den Linken, Autonomen – kriminell nach herrschaftlicher Definition! Erfüllt den StGB-Tatbestand der „Fahrgelderschleichung“, sprich: Betrug ! Warum wird da massenhaft schwarzgefahren? Taktisch-politisches Kampfmittel, um die Monopole der Verkehrsbetriebe zu untergraben? Nicht auch – oder nur? – um schlicht und ergreifend Geld zu sparen?

ABER  - so ist zu hören, „die normalen Gefangenen schädigen mit ihren Handlungen andere, schädigen nur zu oft ihre eigenen Klassenangehörigen“. Ihre Klassenangehörigen? Die sie ausgrenzten, wie es die Ober-Kriminellen – die einzigen und wirklich Asozialen sitzen in der Gesellschaftspyramide immer oben – befahlen; mit den Fingern auf sie zeigend, zu kompensieren ihre eigenen Kaputtheiten?
Das „Lumpenproletariat“ ist eine eigene Klasse – geworden. Eine Unter-Unterklasse, gezwungen zum Unter-Unterklassendasein. Sollten sie Rücksicht nehmen auf ihre Mitunterdrücker, von denen sie nichts als Verachtung erfahren? Gar den sie befreien wollenden Linken um den Hals fallen, deren zu viele ihren Springer klammheimlich im Kopf, die Kleinbürgermoral im Zeigefinger tragen? Bliebe noch zu fragen, wen schädigen die Schwarzfahrer? Was geschieht im Kapitalismus mit Unternehmensverlusten, privaten wie staatlichen? Die werden alle sozialisiert, sprich: via höherer Preise umgelegt auf die Allgemeinheit. Ebenso wie die Kosten des linkerhand gleichfalls längst als Massensport und – hobby praktizierten Kaufhausdiebstahls.

Und die hochfürnehmen Herrschaften Salon-Marxisten, mit Uni-Dozentur, Kilometerpauschale, subventioniertem Mittagstisch? Die klauen nicht im Kaufhaus, haben schwarzfahren nicht nötig, bezeichnen ihrerseits solche „Freak-Praktiken“ als kriminell. Werden aber höchst ungerne an die aus BaFÖG-Zeiten stammenden teuren Fachbücher in ihren Privatbibliotheken erinnert, bei Montanus, in bürgerlichen Büchereien – allzu oft auch in linken Buchhandlungen geklaut usw.
Kurzum: Wen die bürgerliche Strafjustiz als Einbrecher*in, Dieb, Betrüger*in, damit als Kriminelle etikettiert – Delikte, die den Hauptanteil in den offiziellen Kriminalitätsstatistiken ausmachen (80-85 %) – der ist nicht weniger politisch als Guerillaangehörige, schwarzfahrende, „einklaufende“ Linke; diese nicht weniger kriminell als die Geächteten.

Die Konsequenz dieser Tatsache liegt auf der Hand.
Weg mit den diskriminierenden Stacheldrahtbegriffen.
Schluss mit akrobatischen verbalen Verrenkungen wie „normale, soziale Gefangene und so weiter. Darin wird nur der Versuch sichtbar, um jeden Preis eine konstruierte Grenze zu bewahren. Voraussetzung für Gefangenenarbeit, wäre die Abschaffung dieser Grenze, Aufhebung des Herrschaftsetiketts Kriminalität, nicht verzweifeltes Bemühen um einen gebührenden Sicherheitsabstand gegenüber diesem Pariazeichen.
Voraussetzung letztlich, um alle Internierten als Menschen zu sehen, denn reduziert auf die Funktion Gefangener.

„Der Gefangene ist mehr als nur Gefangener, eben ein Individuum, mit einem Ensemble sozialer und emotionaler Bedürfnisse“ --- daraus folgt:

wenigstens eine Antiknastbewegung sollte aus dieser Erkenntnis auch in ihrem Handeln Rechnung tragen --- denn an den Schlüsseln für eine verknastete Gesellschaft wird eifrig weiter gefeilt – alle ihre eigenen und der Nächsten Gefängniswärter*in.


Montag, 21. Dezember 2015

Texte der Gefangenenbewegung: 2. Gefangenenrat statt Gefangenengewerkschaft? - Die 3 Schritte der Gefangenenbewegung

„Komm schon.Jeder hat seine Mauern, seine Bunker, seine Bastille, seinen Himalaya und seine Abgründe. Du denkst doch nicht etwa, daß du anders bist als die anderen, daß für dich alles schwieriger und schmerzhafter ist! Du weißt, daß das nicht stimmt. Du hast sogar Glück, weil du in deinem Inneren dieses Bewusstsein hast. Dir stehen noch so viele Kämpfe bevor! Du stehst erst am Anfang deines Wissens! Wenn du darunter leidest, heißt das, daß du auf dem richtigen Weg bist. Ein Weg, der keine Märtyer, aber den Willen zu Wissen und Kampf braucht. Wie leicht es doch wäre, so leicht, sich der Lethargie der Unterwerfung, des Verzichts, des Akzeptierenes einer bequemen Norm zu ergeben! Komm schon, steh auf, mach was! Der Sirenengesang ist hier das Heulen des Alarms, der von den Schließern ausgelöst wird, um eine Flucht zu melden, der Versuch eines Gefangenen, sich sein Recht zurückzuerobern“ (Charlie Bauer)











Ende 1973 gründete sich der „Gefangenenrat Frankfurt“ – das Jahr über fanden diverse „Rote Hilfe-Aktionen“ für die „politischen Gefangenen“ statt, ein „Folterkommitee“ zur Isolationshaft hatte sich gebildet – dem entgegen positionierte sich der „Gefangenenrat“ explizit für alle entrechteten und entmündigten Anstaltsinsassen, womit sie auch Erziehungs- und Psychiatrienanstalten mit einbezogen. Ihr Ziel: eine überregionale Gefangenenorganisation nach dem Vorbild des „Le Comité d`Action des Prisonniers“ (kurz: CAP). Nach Revolten in französischen Gefängnissen hatten 1972 Gefangene die CAP gegründet und mit der von u.a. Michel Foucault gebildeten„Groupe d`Information sur les prisons“ zusammengearbeitet – letztere scheiterte aber an dem Versuch, die vorwiegend subproletarischen Gefangenen mit dem organisierten Proletariat zusammenzubringen.

Waren anfangs bei der Gründung des Gefangenenrates auch Studierende und Arbeiter*innen dabei – waren es dann eigentlich „nur“ noch ehemalige Gefangene – die so natürlich für die in den Gefängnissen eine bedeutend höhere Glaubwürdigkeit hatten.

Ein eigener „Nachrichtendienst der Gefangenenräte“ (ND) brachte vor allem Infos aus den Anstalten und Aktivitäten aus den Gefangenenbewegungen anderer Länder – der „ND“ war aber auch Organ der Diskussion und Selbstreflektion – Probleme innerhalb der Gefangenenbewegung , Konzepte und revolutionäre Strategien wurden diskutiert. In diesem Zusammenhang erschien der nachfolgende Text: „Die drei Schritte der Gefangenenbewegung“ – die wir hier abdrucken.

In den nachfolgenden Texten wurde (wird) dem subproletarischen Gefangenen eine besondere Rolle im Widerstand zugewiesen – was dann fast selbstverständlich viel Kritik aus dem bürgerlich-akademischen Milieu hervorrief – von „Herausbildung“ einer „neuen Herrenklasse“ wurde polemisiert – allerdings gerade und vor allem von den „Herren und Damen“ denen im Text die weitere „Gefolgschaft“ aufgekündigt wurde.


Darin ist die Debatte noch aktuell – über die Deklassierung der Menschen mit dem „schwarzen Winkel“ in den Lagern der Nazis auch auf Seiten anderer Gefangener bis hin in die Polemiken und klassistischenAbgrenzungen gegenüber den „Lumpen“ und „Delinquenten“ heute --- insofern erscheint uns der Text auch heute noch interessant und aktuell genug – über die Gefängnismauern hinaus –










Die drei Schritte der Gefangenenbewegung“ (1975)

1.


Die Gefangenenbewegung beginnt mit dem „Querulanten“. Wir wollen das ausdrücklich feststellen, um denen entgegenzutreten, die sie mit den betreuerischen Einflüssen der Studentenbewegung beginnen lassen, und außerdem, um auf die Entgegengesetztheit beider Bewegungen hinzuweisen.
„Querulanten“ unter den Gefangenen der Gefängnisse und Anstalten sind diejenigen, die sich „sinnlos“ zur Wehr setzen – die verlorenen, um sich schlagenden Einzelkämpfer, die ihr Recht von einem Regime zurückerwarten, das ihnen alles Recht abgenommen hat. Mit den Niederlagen, die man ihnen beibringt und die ihnen jede Hoffnung abschneiden, verlieren sie allmählich den Kontakt zur „Realität“: das Einfühlungsvermögen in die Denkweise des Feindes, dem sie ausgeliefert sind. Der Rest ist Geschäft des `Dachdeckers`, des Psychologen oder – was dasselbe ist – des Pfaffen. Der „Querulant“ wird zum Objekt der „Betreuung“ – einer letzten Instanz der Unterwerfung. Er wird den Studierenden vorgeführt.

Warum die Querulanten die „Politik“ für sich aufgaben oder allein nie zu einer solchen gekommen sind, hängt hauptsächlich mit den Niederlagen der proletarischen Politik zusammen. Diese Niederlagen haben einen großen Teil der Arbeiter, und vor allem das Lumpenproletariat, von den verräterischen sozialistischen Parteien entfernt und ohne politische Alternative gelassen.
Während sich die Angestellten und Facharbeiter zu einer neuen Mittelklasse zusammenschlossen (um die sozialdemokratischen Parteien) wurde der Widerstand des Proletariats selbst unpolitisch und – vereinzelt – besonders im Lumpen-und Hilfsarbeiterproletariat kriminell und psychopathisch. Er fiel in die Reviere der Kriminalpolizei und der Psychiatrie. Seine Aussichtslosigkeit verlieh ihm jedoch eine besondere Stabilität: Die Denkweise des verlorenen Lebens, des Desperadotums. Sie hatte ihre aktiv-gewalttätige und ihre passiv-leidende „krankhafte“ Seite.

Die studentische Linke bemühte sich, vor allem in der Zeit des SDS, um das Lumpenproletariat als mögliche Hilfstruppe, gab diese Absicht jedoch einige Jahre später zugleich mit einer als „putschistisch“ erklärten Strategie auf und verwies das Lumpenproletariat wieder in den Bereich der sozialen Fürsorge. Der „Marsch durch die Institutionen“, der die Studentenbewegung schon vor ihren Resten, den demagogischen Parteien der neuen Bürokraten, verdarb, konnte durch einen lumpenproletarischen Anhang nur behindert werden. Der kurzfristige Ausflug der neuen intellektuellen Arbeiterklasse in den gesellschaftlichen Untergrund war damit beendet. Die „Randgruppenstrategie“ hat dazu eine Reihe sehr wirksamer Unterdrückungstechniken des Regimes hervorgebracht – teilweise mit aktiver Mithilfe ehemaliger Größen der Studentenbewegung. Vor allem hat sie Psychiatrisierung und Psychologisierung der Unterdrückung der gefangenen Lumpen verstärkt. Zugleich aber hat sie die Lumpen „politisiert“. Diese „politisierten“, jetzt „politisch“betreuten, das heißt immer zurechtgewiesenen und von den Studenten bevormundeten Lumpen, blieben nach dem Verschwinden der linken Botschafter als Zellen einer ansatzweisen lumpenproletarischen Politik zurück.

Die Entfremdung zwischen studentischer Linken und Lumpen verwandelte sich in offene und versteckte Feindschaft zweier neuer Klassen: der intellektuellen Arbeiterklasse und den deklassierten Arbeitern, dem asozial gewordenen Proletariat. Ein großer Teil des noch von Hand arbeitenden Proletariats steht in dieser Feindschaft den Lumpen und deklassierten Arbeitern näher als den Kommunisten, die als Propagandisten der neuen Bürokratie erkannt werden.

Ein weiterer Aspekt der Vorgeschichte der Gefangenenbewegung ist der Versuch des Regimes – in einem Zeitabschnitt größter Unwahrscheinlichkeit innerer Unruhen – die innere, politische und soziale Unterdrückung mit einem „resozialisierenden“ Charakter zu versehen. Gegenüber dem Lumpenproletariat sollten ähnliche Methoden der Manipulation, Bestechung und Vereinzelung angewandt werden, wie sie bei den Arbeitern bereits gewirkt hatten: durch individuelle Behandlung, Bezahlung nach Leistung, Prämien für „gute Führung“ und „charakterliche Besserung“ sollte das Lumpenproletariat im Gefängnis und in der Halbfreiheit unterworfen werden.
Die Anfänge der Resozialisierung liegen in der Zeit der Verknappung an Arbeitskräften. Die Resozialisierung beginnt deshalb auch folgerichtig mit einer Erneuerung und Modernisierung der faschistischen Zwangsarbeitsindustrie. Jedes größere Gefängnis besitzt seitdem im Anschluss an die Zellenbauten, die meistens aus dem vorigen Jahrhundert stammen, ein fluchtsicheres, modernes Industriegelände. Diese von der Justiz verwalteten Zwangsarbeitsindustrien ergeben jährlich für das Regime einige Milliarden Profit. Hinzu kommen noch die im inneren Dienst von Gefängnissen und psychiatrischen Haftanstalten, für die Häftlinge und Internierte angestellt werden. Nach den Angaben eines Anstaltdirektors im Bericht über die Lage der Psychiatrie führt diese Ausbeutung in den psychiatrischen Haftanstalten dazu, dass zum Beispiel langjährig Internierte, die sich in irgendeinem Bereich des Anstaltsbetriebs unentbehrlich gemacht haben, von der Verwaltung nicht entlassen werden, um im Anstaltsbetrieb keine Lücke zu hinterlassen.

Die Industrialisierung der Zwangsarbeit ist der wirtschaftliche Kern der Resozialisierung. Die Zwangsarbeit, die vom Staat beschlagnahmte Sklaverei, war lange im Stadium der Manufaktur geblieben. Mit der zunehmenden Verteuerung von Handarbeit – und ihrer allmählichen Ablösung durch Vollautomaten – werden teilmaschinelle, für die nicht genügend freie Arbeiter zu finden sind und die Lohnzugeständnisse nötig machen, für die Zwangsarbeitsindustrie lohnend.

Die Folge ist, dass sich in der veralteten Form der Ausbeutung im Gefängnis der „veraltete“ Arbeiter – der Handarbeiter – wieder findet und zur Massenarbeit an Fliessbändern diszipliniert wird. (Während die freie Industrie den „freien“ Arbeiter zu einer Charaktermaske des Regimes, zum „denkenden Mitarbeiter“ ausrichtet) Die zweite industrielle Revolution der kapitalistischen Industrie ist also gleichbedeutend mit der industriellen Revolution in denjenigen Gebieten des Regimes, in denen die Sklaverei herrscht.

Der ideologische Vordergrund dieser industriellen Revolution der Zwangsarbeit ist die Resozialisierung. Sie soll rechtfertigen und es ermöglichen, dass der Zwangsarbeiter von der Stufe der Handfertigung auf eine – wenn auch veraltete – industrielle Stufe „gehoben“ wird. Dazu ist eine Manipulation, eine „Befreiung“ an ihm nötig. Er muss so weit „frei“ werden, um ihm ein gewisses Maß an Arbeit lohnend erscheinen zu lassen. Die industrielle Arbeit besteht zu einem großen Teil aus Akkordarbeit. Akkordarbeit lässt sich aber nur mit Arbeitern durchführen, die bezahlt werden – in der besonderen Art der belohnenden und bestrafenden Einzelbezahlung der kapitalistischen Massenarbeit.
Unbezahlte Arbeiter können zwar durch Aufseher und durch dauernden äußersten Zwang zur Arbeit getrieben werden, aber sie werden bei jeder Gelegenheit Widerstand leisten und die Produktion sabotieren. Sie arbeiten nur, wenn der Druck von außen größer ist als der eigene Widerstand. Was die Resozialisierung bezweckt, ist vor allem, dass die Zwangsarbeiter aus eigenem Antrieb im Akkord arbeiten sollen – und zwar durch die Vorstellung eines „Lohns“. Wie illusionär der Zwangsarbeitslohn ist – gemessen an normalen Löhnen – spielt hier keine Rolle. Wichtig ist der Tauschwert innerhalb der Anstalt, die „Zigarettenwährung“ des Lohns (die von der Anstalt zum Zweck der „Arbeitswilligkeit manipuliert werden kann, indem man von Zeit zu Zeit Inflationen hervorruft. Dabei spielt meistens noch ein anderer Blutsauger, der Gefängnis Händler, eine Rolle, dessen Preise eigenartigerweise manchmal doppelt so hoch sind wie draußen).

Die Resozialisierung, das Lieblingskind der Liberalen, hat überall in den Internierungslagern, selbst in den psychiatrischen Haftanstalten, die Akkordarbeit eingeführt – in einem Tempo, wie zur Zeit des Manchesterkapitalismus und mit dessen Brutalität. Nicht nur der Lohn ist illusionär, sondern jeder Vergleich mit der „freien“ Massenarbeit. Die Gefängnisindustrie kommt ohne alles aus, was die Reformer seit den Anfängen der Industrialisierung an Zugeständnissen für die Arbeiter erreichten.

In den offiziellen Broschüren und in der Presse erscheint die industrielle Sklaverei als Beweis für die Reformbemühungen und die Menschlichkeit des Regimes.
Unter den Bürgern können sich die aus der Gesellschaftsfähigkeit Ausgeschiedenen nicht mehr verständlich machen. Verschiedene Klassen sprechen verschiedene Sprachen, eine Verständigung ohne gemeinsame Interessen nicht möglich. Die Ausbeuterklassen begreifen Unterdrückung und Mord als Menschlichkeit und den Verteidigungskampf der Unterdrückten dagegen als Verbrechen.

Mit der Industrialisierung der Zwangsarbeit, die die Gefangenen in Massen an den Fließbändern und in den Montagehallen zusammendrängte, entstand unter ihnen allmählich eine Form des Widerstands, der sich von der „Querulanz“ unterscheidet. Die Querulanz war im besten Fall zu dauernden Dienstaufsichtsbeschwerden und Strafanzeigen gegen die Beamten und die Anstaltsleitung gelangt und war eine Art Sabotage geworden, die offen oder verborgen, aber meistens allein, dem Anstaltsregime Widerstand leistete. Mit der Industrialisierung der Gefängnisse aber kamen die ersten Versuche kollektiver Sabotage. Die Vereinzelung in den Zellen wurde teilweise durchbrochen und konnte auch nicht mehr durch die moralisierende, belohnende und bestrafende „Bezahlung“ ausgeglichen werden. Unterschriftensammlungen, Sitzstreiks, sogar Arbeitsstreiks, die den Profistrom der Anstalten plötzlich abschneiden konnten, waren möglich geworden. Mit der Industrialisierung der Gefängnisse hatte sich das Regime ihre Anfälligkeit für Streiks eingehandelt.

Mit der Resozialisierungsideologie entstand im Kleinbürgertum, bei den Liberalen und bei den Studenten eine Schwärmerei für die Gefangenen. Sie wurde von der Justiz mit Wohlwollen ausgenutzt. Sie selber malte das Bild des Ausgestoßenen der bürgerlichen Gesellschaft, des überall Zurückgewiesenen – ein Bild, das reale Momente hat, die sich ohne Mühe auffinden ließen –und damit die Fürsorgeinstinkte des Kleinbürgertums und aller nicht direkt Extremen hervorzurufen und für die „Gefangenenbetreuung“ einzusetzen. Die proletarischen Gefangenen sollten von ihrem „Milieu“, dem Leben ihrer Klasse und von der Vergangenheit, die hinter ihnen lag, getrennt werden und in kleinbürgerliches Milieu, Wohngemeinschaften, ins Milieu „sozialer“ Bürger verpflanzt werden. Diese Unterwerfungsideologie, an der sich auch ein Teil der Linken beteiligte, hat unter dem Lumpenproletariat teilweise groteske Anpassungshaltungen erzeugt und viele der politisch Intelligenten seelisch verkrüppelt.

Trotz der ungeheuren Ohnmacht der manipulierenden Unterwerfung begann die politische Bewegung der Gefangenen. Sie benutzte zwar noch die Schablonen der Linken, aber es war offensichtlich, dass ihr Klasseninhalt neu war und nichts mit den versteinerten und spitzfindigen Begriffen der Linken, die sie aus den Texten der Vergangenheit kopierten, anfangen konnte. Was bisher „links“ war, war von derselben Sorte, die für das Lumpenproletariat auch ohne irgendwelche Theorien eindeutig Feind war. Ein rechter und ein linker Student – oder „intellektueller Beamter“ – sind für Menschen, die den Intellektuellen der so genannten „sozialen Berufe“ auf die erbärmlichste Weise einzeln ausgeliefert sind und den Studenten wie in einem Zoo gezeigt werden, kein politischer Unterschied mehr, der sie interessiert.

Die Revolte in Bruchsal – von den bürgerlichen Zeitungen wurde sie aufs schlechte Essen heruntergespielt – war der erste Ausbruch dieser neuen Bewegung. Die Justiz antwortete mit grotesken Strafmassnahmen. Die angeblichen „Rädelsführer“ wurden auf andere Anstalten verteilt und werden seit eineinhalb Jahren von einer Anstalt in die andere verschubt, um sie nirgends sesshaft werden zu lassen. Sie werden von den anderen Gefangenen getrennt.“






2.


Die politische Bewegung der proletarischen Gefangenen und des Lumpenproletariats existiert ansatzweise und noch ohne endgültige Organisation. Die Vereinigungen gehen – z.B. innerhalb der Gefängnisse – von den nächstliegenden gemeinsamen Interessen aus, wobei aber in allen Petitionen und Forderungen die Notwendigkeit des politischen Kampfes und die völlige Aussichtslosigkeit geringster Forderungen und Verbesserungen durchscheint. Die politische Organisation der Gefangenen und des Lumpenproletariats entsteht aus den Einzelelementen der Lage der Klasse. Und in dem Maße, wie sich die Einzelelemente zu einer begreifbaren Verallgemeinerung dieser Lage zusammenfügen lassen, wird die Bewegung politisch.

Mit der Vereinigung wächst auch die revolutionäre Intelligenz der Klasse. Sie erscheint nicht mehr als Störung der Geschichte, sondern als ihre Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit.

Der Begriff der Klassenorganisation heben die Begriffe des Regimes auf, die zu Beginn der Bewegung noch bestimmend sind: „Gefangener“, „Patient“ „Obdachloser“, „Arbeitsloser“ sind Begriffe der Ohnmacht. Sie sind rein verneinend und verschleiern den Umfang der Unterdrückung wie den Umfang des Widerstands, den das Lumpenproletariat gegen das Regime zu leisten vermag. Mit der Klassenorganisation entsteht ein revolutionärer Intellekt, der sich durch das Nachrichtensystem der Organisationen verbreitet und Handlung zuwegebringt, die alle verneinenden, betreuerischen Bezeichnungen des Regimes eindeutig widerlegen und eine Front gleichwertiger Kämpfer zwischen dem Regime und der lumpenproletarischen Organisation herstellen. Die ideologischen Nachahmungen der sozialen Klassen verfallen. Die Asozialen und Enteigneten des Besitz-Regimes bekennen sich zu ihrer eigenen Existenz, statt unter der Tarnung anderer Klassen zu leben.

Alle Klassen sind im Gefängnis vertreten. Jedoch so, wie alle Klassen in der Straßenbahn vertreten sind: nicht repräsentativ. Die Oberklassen fehlen, oder es kommen aus ihnen nur die Deklassierten, die schon abgeschrieben sind: die bürgerlichen Psychopathen. Das Lumpenproletariat ist im Gefängnis die Mehrheit. Es gibt nur einen gewissen Prozentsatz „Fremde“ mit bürgerlichen Delikten: einen gewissen Prozentsatz kleinbürgerlicher Psychopathen oder deklassierter Geschäftemacher, veralteter Händler usw. Diese Elemente stehen außerhalb der Gefangenenbewegung. Sie sind politisch oder reaktionär. Ein großer Teil der Verräter und Helfer des Anstaltsregimes kommt aus dieser Gruppe. Sie sind der übliche Gesprächspartner der Anstaltsleitung bei den Konferenzen der so genannten „Gefangenenmitverwaltung“ oder der Psychologen bei den Versuchen von „Gruppentherapie“.

Heute ist die Haltung der Linken gegenüber den Gefangenen reformistisch. Die linke Politik hat die Gefangenen „angesteckt“, aber die Zeit der sozialromantischen „Randgruppenstrategie“ ist vorbei. In den linken Organisationen stößt das Lumpenproletariat auf eine Ablehnung, die leicht klassistische Züge annimmt und sich in nichts vom allgemeinen bürgerlichen Horror gegenüber den Lumpen unterscheidet. Die linke Strategie der aufs Gesetz bauenden Institutionenveränderung, die für einen großen Teil der Linken die Rationalisierung ihres Abschieds von der Revolution war, gestattet ihnen in den „sozialen Berufen“ die offene Zusammenarbeit mit dem Regime.

Die Abkehr der Linken hebt die Trennung der Klassen ins Bewusstsein, die tiefer und dauerhafter ist als irgendwelche Abneigungen oder Meinungen. Die politisch Aktiven innerhalb und außerhalb der Anstalten erkannten, wie weit sie von sich selbst entfernt waren, solange sie kritiklos die von den Studentenparteien formulierte Politik übernommen hatten. Die Trennung von den Linken, die von ihnen ausging, nahm bald die eindeutigen Formen eines neuen Klassenkampfes zwischen der neuen Bürokratie und den Lumpen an: gegenseitiges Hinausdrängen aus den Gruppen und Organisationen oder aus den besetzten Häusern, gegenseitiges Misstrauen und gegenseitiger Verrat. Dieser Kampf spielt sich nur scheinbar auf der „psychologischen“ Oberfläche ab.
 Die studentische und intellektuelle Linke, die sich unter den Lumpen Rausschmeißer, Denunzianten(Verräter), Spitzel und regelrechtes Dienstboten- und Bedienungspersonal angeworben hat, ist halb unbewusst zu den Taktiken des Regimes übergegangen, die das Lumpenproletariat und Hilfsarbeiterproletariat spalten sollten. Zu den Spitzeln des Regimes kommen die aufgehetzten Ahnungslosen und die Verräter, die von der linken Seite ausgeschickt werden.

Gegenüber dem Lumpenproletariat ist das kapitalistische Regime faschistisch. Es unterscheidet sich nicht grundsätzlich vom Nazi-Regime. Die demokratische „Reform“ des Naziregimes betrifft andere (besitzende) Klassen, nicht das Lumpenproletariat. Das Verhältnis des Regimes gegenüber den Lumpen und de Hilfsarbeitern hat sich nicht demokratisiert. Von daher ist schon jede Diskussion über Strafrecht usw. verfehlt, ganz und gar überflüssig –wie überhaupt der größte Teil der „Wissenschaft“ des Regimes außerhalb des Unterdrückungsapparates psychopathischer Unsinn ist. Das Regime hat nichts derartiges wie ein „Recht“ gegenüber den Lumpen. Hier gelten keine bürgerlichen Gesetze, die von den Bürgern selbst anerkannt worden sind oder zumindest für sie von Nutzen sein können, indem sie den Eigentümer vor Diebstahl und Raub schützen. Das Regime ist gegenüber dem asozialisierten Proletariat gesetzlos – wie das Naziregime gegenüber den Arbeitern und den Juden. Es ist ein verbrecherisches Regime. Diese Bezeichnung ist nicht einmal bildhaft. Sie ist die logische Bezeichnung für die Abwesenheit von „Recht“ oder überhaupt einer menschlichen Vereinbarung, was das Lumpenproletariat betrifft. Damit sind die Beamten, Politiker, Hintermänner, Zivilisten und Uniformierte des Regimes Verbrecher – sie erwartet der Prozess und keine Weiterbeschäftigung unter einem Regime der „Volksfront“, die sie aber selbst verhindern werden.

In den politischen Organisationen des Lumpenproletariats treffen zwei hauptsächliche Tendenzen aufeinander, die nur scheinbar verschiedenen Ursprungs sind. Die erste Tendenz ist eine halb verdorbene, halb gleichgültige Anpassung an den Stil politischer Organisationen, den man von der Linken oder von der Sozialhilfe gewohnt ist und besteht in der Nachahmung eines Verhaltens und einer Politik, von der man annimmt, „dass sie so sein muss“. Diese Nachahmung, mit der man für sich und für andere einige Verbesserungen, Vergünstigungen oder irgendwelche Vorteile herausschlagen will, wird schnell vom Milieu ausgenutzt, das, weil sich niemand mit den nachgeahmten Problemen und Grundsätzen einverstanden erklärt, die ganze Sache hemmungslos zu Geld macht. (Die reformistische Gefangenengewerkschaft verschwand auf diese Weise und ihre Kasse verschwand mit ihr). Der Grund für die verdeckte Verderbtheit der reformistischen Organisationen ist die tiefe Resignation und die berechtigte Skepsis – oder Gleichgültigkeit der Lumpen und Hilfsarbeiter, die ihnen angehören, vor allem, wenn es sich um betreuerische Zusammensetzungen handelt.

Die Lumpen glauben nicht an die Echtheit „politischer“ Überzeugungen. Sie sehen in politischen Organisationen praktische Zwecke: den persönlichen Nutzen, den jeder aus ihnen herausschlägt – mit derselben Gerissenheit, mit der man sich sonst über Wasser halten muss. Diese Haltung beweist, wie weit die Lumpen von der „Politik“ entfernt sind und wie „natürlich“ in dieser Lage der Verrat und die Bestechung – oder die politische Gleichgültigkeit ist. Für diese Sicht ist es ganz verständlich, dass ein solches Unternehmen später für einige zum Geschäft wird und in Schieberei endet. Etwas anderes könnte man nicht erwarten und wird nicht erwartet. Die „Bestechlichkeit“ der Lumpen ist etwas, was die Linken nicht verstehen. Sie missverstehen die scheinbar Bereitschaft der Lumpen, sich benutzen zu lassen, als ihre „Eigenschaft“ .Die Linken verhalten sich in dieser Frage eigenartigerweise völlig unmarxistisch. Bei der psychologischen Diskriminierung der Lumpen – unter dem Schleier der Betreuung – sind sich daher die Reaktion und die Linke im wesentlichen einig.

In jeder Gruppe oder Organisation, in der Lumpen vertreten sind, wird als Gegensatz zu der Fraktion der Gleichgültigen die terroristische Fraktion auftauchen, die wahre Stimme des Lumpenproletariats. Sie verkörpert das Heldentum und alle großen Eigenschaften, die das Lumpenproletariat in der Vergangenheit bewiesen hat. Dieser Terrorismus ist naiv – deshalb aber zu sagen, er sei falsch, ist Unsinn. Wenn man ihn ausschließt, schließt man die politische Entwicklung des Lumpenproletariats überhaupt aus. Das Bewusstsein, immer der Betrogene zu sein – die realistische Kehrseite der Bestechlichkeit – kennzeichnet auch die Terroristen. Ebenso wie die Gleichgültigen glauben die Terroristen nicht an die gemeinsame Aktion, auch sie denken meist noch in vereinzelten Kategorien. Dieser Individualismus wird durch die gefühlsmäßige Annäherung an die RAF verstärkt, deren Ideologie allerdings selbst der terroristischen Fraktion wenig sagt. Nicht zu wissen, wie eine lumpenproletarische Politik aussehen soll, bedeutet nicht, dass sich eine beliebige dafür angeben lässt. Die Nachahmung einer „konspirativen“ Taktik behindert die militante Organisierung und endet leicht in Resignation, wenn man feststellt, dass zu einer konspirativen Taktik die personellen und sachlichen Mittel einer privilegierten Herkunft und privilegierter Beziehungen fehlen, wie sie für die RAF kennzeichnend sind.

In Gruppen und Organisationen, in denen die studentische Linke noch beherrschend ist, geht sie meistens eine Verbindung mit der gleichgültigen Fraktion ein, die sich ihren Maßstäben von Legalität und „politischer Bewusstheit“ eher anpasst. Die Linke ist sich mit der reaktionärsten Sozialpädagogik darin einig, dass das Lumpenproletariat nicht revolutionär sein kann – und daher für die Lumpen der aufs Recht bauende Weg der richtige ist. Die Betreuer sind das dritte Element lumpenproletarischer Politik. Ob es gelingt, sich völlig von ihrer Herrschaft zu befreien, wird entscheiden, wie diese Politik beschaffen sein wird. Die ersten politischen Gruppen bildeten sich im Anschluss an Betreuungsorganisationen. Viele wurden davon vernichtet. Die neuen eigenständigeren lumpenproletarischen Gruppen und Organisationen schleppen noch den Stil dieser studentischen Organisationen mit sich. Viele Aktive sind dadurch zu Nachahmern ihrer „Betreuer“ geworden und ein Hindernis im Kampf um die Radikalisierung der Bewegung. Die Betreuer erwiesen sich für die politische Emanzipation später immer mehr als hinderlich: zur äußeren Stabilisierung waren sie von einigem Wert.

Die Anfänge der Gefangenenbewegung setzen im Grossen fort, was Erfahrung des Widerstands der Querulanten war: die hoffnungslosen juristischen Gefechte, die nur einen Sinn als Sabotage der Justizmaschinerie haben und auch zuletzt von den meisten Aktiven so gehandhabt wurde. Man erreichte die punktuelle Überlastung durch massenhafte Beschwerden und Anzeigen. Aber die Bürokraten haben mehr Zeit als die Gefangenen. Beschwerden und Strafanzeigen verschwanden im Papierkorb, die Antwort blieb einfach weg. Begründungen unterblieben. Die meisten Strafanzeigen und Beschwerden sind im Sinne des bürgerlichen Strafgesetzbuches und der Dienst-und Vollzugsordnung berechtigt – sie werden pauschal abgelehnt und deshalb ebenso pauschal geschrieben.

Die Gefangenenbewegung wird durch die Anstaltsmauern zerschnitten: sie trennt die Kader „innen“ von denen „draußen“, und die Verständigung zwischen beiden findet unter den Augen des Zensors oder des Beamten im Besuchsraum statt. Ein großer Teil der Post wird beschlagnahmt. Ein Teil verschwindet. Gedruckte Informationen, außer der des Regimes wird ständig beschlagnahmt. Diese Umstände verzerren die Verständigung zwischen innen und außen und zwingt dazu, in der andeutungsweisen, unpräzisen Sprache des Knasts zu sprechen. Das Problem der Isolierung,der Abschottung einzelner oder ganzer Gruppen durch das Anstaltsregime wurde von den Anwälten der RAF deutlich gemacht. Aber es ist das Problem der gesamten Gefangenenbewegung.

Das Anstaltsregime ist ein faschistisches Regime. Wenn man die Kreaturen, die an dieser Stelle sitzen, kennt, begreift man den Hass, den sie auf sich ziehen. Kein Mensch kann jahrelang dieser sadistischen Beschäftigung nachgehen ohne zu einem Schlächter zu werden. Manche von ihnen bemühen sich um äußere Ähnlichkeit mit einem Arzt, einem Verwaltungsbeamten oder einer Art Krankenhausdirektor. Der Sadist hat meist ein schlechtes Gewissen, ist tierlieb und gut zu Kindern….

Das Lumpenproletariat im Gefängnis kann sich nur gewaltsam befreien. Die Gefängnisse und Anstalten sind trotz ihrer aufgesetzten Tarnung als Stätten der „Wiederherstellung“ die Internierungslager des sozialen Krieges. .In den Anstalten herrscht das Kriegsrecht. Wer flieht, wird erschossen. Wer Widerstand leistet, wird erschossen, wenn er nicht niedergeschlagen werden kann. Beim Transport werden die Maschinenpistolen geladen und dem Gefangenen an Händen und Füßen Ketten angelegt. Er wird an das Erschießungsrecht erinnert. Die Zahl der von der westdeutschen Justiz ermordeten Gefangenen kann auf mehrere Tausend geschätzt werden. Die Selbstmorde kommen dazu und die zu Krüppeln gemachten Gefangenen und der Wahnsinn, der in diesem Regime gezüchtet wird. Über die Ermordeten gibt es keine präzisen Zahlen – in den offiziellen Statistiken erscheinen nur auf der Flucht erschossene, an Krankheiten und Verletzungen Gestorbene und Selbstmörder. Diese Statistiken sind für jemanden, der die Euthanasie-Methoden der Anstaltsmedizin nicht kennt, nicht zu durchblicken. Wie sich dieses Regime, das ein schlechtes Gewissen hat und Zeugen aus dem Weg zu schaffen versucht, in Zeiten innerer Unruhen gegenüber den Gefangenen verhalten wird, können wir nicht wissen, allenfalls erahnen. Es gibt keine Garantie für das Leben der Gefangenen. Eine größernteils faschistisierte Bevölkerung ist an einer solchen Garantie auch nicht interessiert. Es gibt solche Zufälle, wo man Gefangene findet, die von den Wärtern ganz einfach totgeschlagen wurden. Aber die psychische Grausamkeit der faschistischen Justiz, die in den Gefängnissen und Anstalten herrscht, die Drangsalierung der Gefangenen in Folterzellen, durch Schläge, durch Hunger, Durst, Kälte, Vereinsamung und seelische Quälerei lässt sich nicht auf ein paar „Fälle“ beschränken, die durch die Filter der bürgerlichen Presse an die so genannte „Öffentlichkeit“ gedrungen sind.

Es dringt nur wenig nach außen. Das meiste erstickt schon die Zensur. Den Rest erstickt die Presse, die – genauso wie die Staatsanwaltschaften – Berichte aus den Internierungsanstalten nicht beachtet oder bis zur Unkenntlichkeit verdreht und damit gegen den Absender selbst richtet. Was bekannt wird, ist durch die Filter vieler Interessen gegangen und endet als der Fall, den diese Interessen gerade brauchen oder den irgendeine Clique des Regimes gerade braucht. Der verbrecherische Charakter des Regimes wird davon nicht berührt.

Die Gefangenen erwarten von einer Organisation, die „frei“ ist, dass sie den Terror des Regimes bekämpft und dass sie ihr Leben schützt. Ihr Zweck ist nicht, auf demselben erbärmlichen Niveau „legal“ zu werden, wie das notgedrungen die Internierten selbst sind, also Beschwerden verfassen, Unterschriften zu sammeln usw. Die Organisation muss sich an der terroristischen Struktur des Regimes orientieren und sie muss zum Ziel haben, das Regime vor einer Ausweitung des Terrors und des Verbrechens abzuschrecken: durch Arbeitsstreiks und Befehlstreiks, zu denen eine Organisation in den Anstalten und im ganzem Gebiet des Regimes aufruft (z.B. durch einen illegalen Sender), durch die Bestrafung besonders hervorstechender Beamter, durch beispielhafte Bestrafung der Anstaltsleiter, Staatsanwälte, Richter. Wichtig bei solchen Aktionen des revolutionären Gegenterrors ist, dass die einfachen Angriffstaktiken und hauptsächlich die unbegrenzt verfügbaren primitiven Waffen des Lumpenproletariats benutzt werden; und dass sich die legale Organisation räumlich genügend auseinander zieht, um einen Polizeiangriff immer auf wenige Gruppen begrenzt halten zu können. Die Ziele solcher Aktionen müssen vor den Aktiven in den Gefängnissen und Anstalten angegeben werden






3.

Der immer noch vereinzelte, zufällig und von kleinen Gruppen praktizierte defensive Gegenterror entwickelt sich langsam und in Anlehnung an die militanten Gruppen der Linken. Die Kerne der politischen Organisation des Lumpenproletariats sind klein und ständig wechselnd; es gelingt wenigen, sich überhaupt auf das relativ privilegierte Niveau der politischen Kader außerhalb der Internierung zu bringen. Die Kader sind deshalb isoliert, und diese Isolation von den Massen des Lumpenproletariats und der Arbeitslosen beinhaltet die Gefahr der Unterwanderung durch „Betreuer“ und Gleichgültige, die sich für eine reformistische Linie entscheiden. Die Isolation kann als „politische“ Organisation nach dem herkömmlichen Muster bürgerlicher und linker Organisationen nicht durchbrochen werden. Die politische Organisation, die als bürokratische Etappe immer eine konservative Kraft ist, hat weder den Charakter noch die Struktur einer solchen, die zur Massenbasis werden könnte. Sie nimmt nur einen geringen Raum im Leben der Aktiven ein und ist deshalb auf zufällige und ungeplante Einzelaktionen beschränkt, die außerdem am Mangel an geeignetem Material leiden. Das hauptsächliche Verdienst der politischen Organisation liegt im Nachrichtendienst, beim Transport von Informationen in alle Internierungsgebiete und bei der geschickten Durchstoßung der Zensur. Aber eine Offensive ist von dieser Organisation nicht zu erwarten. Je mehr sie sich verfestigt, um so eher wird sie den „Betreuern“ verfallen, die das „stabile“ Element in ihnen bilden – aufgrund ihrer anderen Klassenherkunft. Die „politischen“ Organisationen sind widersprüchlich und ziellos. Diese Ziellosigkeit ist aber nichts anderes als der Preis der Unmöglichkeit, im „politischen“ Rahmen des Regimes zu bleiben und zugleich den politisch-militärischen Kampf gegen das Regime zu führen. Da die „politische“ Organisation nicht Massen- und Rekrutierungsbasis sein kann, bleibt von ihr nur eine relativ zweitrangige „informative“ Funktion. Allerdings ist eine Propaganda, die ohnmächtig ist, wertlos.

Die wirtschaftliche Krise des Regimes verstärkt die Verelendung des Proletariats und verstärkt das Lumpenproletariat. Andererseits vergrößert sich das militärische und polizeiliche Unterdrückungspotential, das zur Niederschlagung innerer Unruhen und zur Sicherung der Investitionen für das Regime notwendig ist. Das Regime wird den Ausnahmezustand des Lumpenproletariats verschärfen und ihn über größere Teile des arbeitenden Volkes ausdehnen. Ein offen faschistisches Regime kann schließlich gegenüber der gesamten Linken und gegen die arbeitende Bevölkerung denselben Terror anwenden, der bisher gegen das Lumpenproletariat gerichtet war und auch in der arbeitenden Bevölkerung Helfer und Verräter gefunden hat.

In dieser Lage, und angesichts der militärischen Schwäche der sozialistischen Linken, ist die Situation für die Organisation des Lumpenproletariats äußerst günstig, offensiv zu werden. Das Lumpenproletariat ist die einzige Klasse, die von der Unterdrückungsoffensive der Reaktion nicht überrascht wird. Der Terror ist für die Lumpen nichts neues, er gehört zu ihrem Leben, wie schlechtes Wetter. In der Verwirrung, die der auf die Massen gewendete Terror schaffen wird (Verbote, Massenverhaftungen, Todesstrafe für bestimmte Handlungen, Erschießungen) sind die Lumpenproletarier die ersten, die fähig sind, offensiv und militärisch zu kämpfen – während die Arbeiter voraussehbar weiterhin in der Defensive bleiben werden oder in der Masse zur Konterrevolution übergehen. Voraussetzung dieser lumpenproletarischen Offensive ist, dass sich in der Zeit vorher genügend militärische Kader sammeln, die die arbeitslosen und aus den Internierungslagern kommenden Aktiven auf den militärischen Kampf vorbereiten . Diese Vorbereitungen müssen legal oder halblegal und getarnt sein. Notwendig dafür ist eine konsequent militärische berufsmäßige Organisation, die den politischen Teil einschließt, ein kasernenmäßiges Zusammenleben der Einheiten, eine auf dem offenen Kampf ausgerichtete militärische Disziplin und der Einzug von Steuern zum Aufbau einer revolutionären Miliz. In den darauf folgenden Kämpfen und Zusammenstößen mit der Polizei wird die proletarische Miliz zwei Vorteile haben: sie wird rasch anwachsen, weil sie sich im Gegensatz zur „politischen“ Organisation unter den Massen bewegen wird; und sie wird die Kämpfe in der Großstadt als Manöver für den Ernstfall benutzen können und sich dabei die Disziplin und Ausbildung für den bewaffneten Kampf in größeren Einheiten aneignen.“

Gefangenenrat Frankfurt













Montag, 14. Dezember 2015

Texte der Gefangenenbewegung: 1. Lumpen im Schliessfach - Peter Paul Zahl



Den folgenden Text schrieb
             

                                                            Peter Paul Zahl 


                                                             


 1976, in einer Zeit wo der Knast Alltag war in bestimmten Stadtteilen, in den Wohn-und Arbeitsgemeinschaften und Kommunen, wo sich Fabrik, Uni, Stadtteil zusammentrafen, die Automatenknacker, die Ex-Junkie und Ex-Prostituierte mit der Soziologiestudentin, der Gelegenheitsarbeiter – eine(r) war immer gerade im Knast – und es wurde täglich gestritten, geliebt, gelebt -  draußen;  sich bekämpft und solidarisiert -  drinnen wie draußen –; nie war die politische Linke so nah an der Wirklichkeit, nie wieder so „umstürzlerisch“ mit den „Kriminellen“ und „Lumpen“ verbunden und verwickelt – heute sorgt sie sich um die Ko-operation mit Staat und Justiz, um gar nicht erst in den Knast und damit in Kontakt mit den anderen zu kommen – der Kontakt draußen ist ja schon erfolgreich die letzten Jahre abgebrochen, distanziert, denunziert worden.

Peter Paul Zahl plädiert in seinem Text für eine gegenseitige Solidarität, eine kollektive Lösung, ihm schwebte damals noch die Vision der „Gesamtarbeiter*innen“ vor – also der oben erwähnten Einheit von Fabrik, Uni, Stadtteil, im Sinne eines daraus gewachsenen „Klassenbewusstseins“ --- für ihn war das „Lumpenproletariat“ nicht die „neue Herrenklasse“, wie es dem damaligen „Gefangenenrat Frankfurt“ vorgeworfen wurde. (Vorgeworfen übrigens von vor allem denen, die sich in ihrer Rolle des „Führers“, und eben dieser Mitgliedschaft einer „Herrenklasse“ nicht mehr ernst genommen fühlten und denen kein Verständnis mehr entgegengebracht wurde, wenn sie „vom richtigen Zeitpunkt“ und „ ihr seid noch nicht so weit“ faselten ).

Vieles in dem vorliegenden Text ist auch heute noch aktuell – wir haben versucht, einige dieser Themen besonders hervorzuheben und mit *) zu versehen

Abolisha Dezember 2015





Lumpen im  Schließfach


I

Im „3. Reich“ wurde nicht nur die „klassische“ Arbeiterbewegung zerstört. Zerschlagen und ausgelöscht wurden auch die organisierte Unterwelt und ihre Subkultur (z.B. Ring- und Sparvereine). Entgegen aller anders lautenden Propaganda aber sank die „Verbrechensquote“ im Tausendjährigen Reich nicht: Sie stieg, relativ und absolut. Der schöne Schein wurde durch Verschweigen in den Medien und durch Goebbels`sche Propaganda verbreitet.

Wie die klassische Arbeiterbewegung verlor das Lumpenproletariat sein kollektives Gedächtnis. Es ist nahezu geschichts- und traditionslos, unstrukturiert. Erst Ende der 60er Jahre eroberten Multis den Markt, vornehmlich in den Bereichen Drogen, Waffen, Antiquitätenhehlerei, Prostitutionskontrolle und Racketteering. Ihre höheren Chargen und Manager sind in bundesdeutschen Knästen so gut wie nicht vertreten – sie haben gute Beziehungen zu Kapital und Staat, ausgezeichnete Rechtsanwälte und operieren transnational.

Exkurs 1

Waisenheim mit Fliessbandabfertigung; Kindergärten mit 30 bis 40 Minimenschen auf einen weiblichen Feldwebel; überfüllte Schulklassen; unzureichend ausgestattete „Sonderschulen“; vollgepropfte Erziehungsheime mit etwa 50 000 „Zöglingen“, von den 50 % zu „Verbrechern“ erzogen werden; 







Lehrjahre mit 1 000 000 Verstößen gegen das Jugendarbeitsschutzgesetz pro Jahr;Bundeswehr;
 Trabantenstädte; Slums und Asyle; Wohnsilos; Fließbänder; Diskotheken; Pfaffe und BILD; Kleinstwohnungen als Familiengrüfte; Arbeitsämter; Sozialämter; Bullenreviere; überfüllte Knäste; Krematorien: Sozialisationsagenturen.








II


Wenn ich einen meiner Brüder hier bitte, seinen Lebenslauf für mich aufzuschreiben, weigert er sich meistens: „ Ich erzähl ihn dir, dann kannst du ja schreiben.
Beharrt man auf seinem Wunsch, dauert es sehr lang, bis man den, zumeist sehr lakonisch-kurzen Bericht in Händen hält. Und auch dann wird man aufgefordert, ihn zu korrigieren, ihn auf keinen Fall in der Form zu übernehmen. „Die Schulbildung, weißt du“.

Das Erstaunliche ist dann immer die Form der Aufzeichnung: habe ich den Bruder als talentierten Erzähler, großartigen Schilderer, komischen Interpreten kennen gelernt, sind seine Aufzeichnungen im „amtlichen“ Stil gehalten. Die Sprache hat sich völlig verändert. Der Lebenslauf ist übersetzt, frisiert. Er ist geschrieben – in der Sprache der Herrschenden.

So etwas wie Lebensläufe fordern Behörden, Richter, Gutachter an. Deren Sprache will gelernt sein, wie Latein, Englisch, Kisuaheli. Ein Lebenslauf ist ein Dokument, ein verräterisches Stück Akte für die Justizmaschinerie. Die hinter der Barriere, die Justizpfaffen in Schwarz, diktieren, was geredet und geschrieben, wie geredet und geschrieben wird, ob der Unterworfene überhaupt reden darf.

Will er reden, hat er die Sprache der Anderen zu benutzen. Benutzt er die Sprache der Anderen, entfremdet er sich gegenüber sich selbst und seiner Klasse. Die Sprache der Anderen sprechen heißt: sich aufgeben. In der Sprache der Herrschenden in Schwarz existieren Worthülsen wie: „Kriminelle Energie … in dubio contra reum … Täter … eine fremde, bewegliche Sache, in der Absicht … Strafprozessordnung … widerrechtlich angeeignet … infam, tückisch, haltlos … Vorsatz, bedingter Vorsatz … psychiatrisches Gutachten … quid pro quo … empfindliche Strafe geeignet … keinerlei Einsicht“  usw. usf.
Es ist die Sprache der Kolonialherren. Sie verlangen, dass die Eingeborenen ihre Sprache sprechen. Tun sie das nicht, werden Dolmetscher, Kapos und Hilfssheriffs (Pflichtverteidiger) beauftragt, die Interessen der Eingeborenen(Mandanten) zu vertreten.


Exkurs 2

Wir sitzen alle in einem Boot; geht es der wirtschaft schlecht, geht es uns allen schlecht;das tut man nicht; du kriegst gleich eine; frag nicht so viel/so blöd; so war es schon immer; stell dich nicht so bekloppt an; das wird sich nie ändern; der Mensch ist schlecht/des Menschen Wolf; die Kleinen sind immer die Angeschmierten; doof bleibt doof, da helfen keine Pillen;sei nett zueinander; du sollst nicht stehlen, nicht ehebrechen, fluchen; Geld regiert wie Welt; du sollst Vater und Mutter ehren; Geld arbeitet; tanz nicht aus der Reihe; wie siehst du denn wieder aus?; da kann man nichts machen; die machen sowieso, was sie wollen; Heil Hitler, Grüß Gott; Mahlzeit; das können wir uns nicht leisten; 


immer schön bescheiden bleiben/ in reih und glied; das kriegt man Rückenmarkschwund von; das ist pervers; das tut man nicht; du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Kind, Kuh, Esel, Fabrik, Mercedes, Swimming pool; lieber tot als rot; immer auf dem Boden der Tatsachen bleiben/ auf dem Boden der fdGO; mach keine Zicken; hast du was, bist du was; pass auf bei den Katzelmachern; Itaker klauen; alle Türken haben Messer; die wollen uns bloß die Arbeitsplätze wegnehmen; die wollen alles zerstören, was wir nach dem Krieg aufgebaut haben; die sollen studieren und nicht demonstrieren; du hast Recht, und ich habe meine Ruhe; unsereins zahlt immer drauf; geh mal zum Frisör; selbst bei den Graugänsen ist das so; für Kaiser, Führer, Gott und Vaterland, für die freiheitlich-demokratische; es wird immer ein Oben und ein Unten geben; bei deinen Schulden würd ich aber nicht so die Schnauze aufreißen; was willst du eigentlich, uns geht’s doch gut; die gehören alle ins KZ/Arbeitshaus/Lager; davon verstehst du nix; nun halt mal endlich deine Schnauze: Sprüche





III

Knast: die kapitalistische Gesellschaft im Kleinen
Knast: Hauptkampflinie an der Inneren Abwehrfront.
Knast im Imperialismus: in Beton gegossene Gigantomie, Kulturdenkmal, Stein gewordene Isolierung, Schließfach auf Schließfach, Schließfach neben Schließfach –architektonische Selbstdarstellung der Konkurrenz-Bourgeoisie.
Knast heute: die beste, die genaueste aller möglichen (Kauf-und Verkaufs-) Welten.
Knast: von perversen Architekten ins Gelände vor den Toren der Stadt gekotzte Verdinglichung.
Knast: Sichtbares Symbol der Zwei Ehernen Gesetze:
            Mehrwert schaffen und Eigentum achten!!!







Exkurs 3

91 % der Richter entstammen der Mittelschicht, nur 1 % der unteren Unterschicht
99 % der Angeklagten kommen aus der unteren Unterschicht, davon haben 96% nur eine Volksschule oder Sonderschule besucht … (1973, Rasehorn, Richter am OLG Frankfurt/M.)


Exkurs 4

Schläge, Vorwürfe, Keifen, Schreien, Tadeln, In-die-Ecke-stellen, Betenlassen, Fesseln, Stubenarrest, Putzlappen zählen lassen, Prüfungen, Eignungstests, Zeugnisse, Ermahnungen, handgeschriebene Lebensläufe, Intelligenztests, Gutachten, Mahnungen, Zahlungsbefehle, Rechnungen, Prügel, Ratenverpflichtungen, verunglückte Interrupti, Aufgebote, Razzien, Prügel, Lebensversicherung, Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Haftpflichtversicherung, Niedrigerstufen, Versetzungen, Eliminierungen, Rationalisierungen, Sitzen bleiben, Vorstrafenregister, Arbeitslosigkeit, Vorstrafenregister, polizeiliche Führungszeugnisse, Arbeitsbescheinigungen, Mieterhöhungen, Akkord – Refa, MTM – Gewerkschaftsbeiträge, Kirchensteuer, Alimente, Gerichtskosten, Vorstrafen, Prügel, vorläufige Verhaftungen, fehlender Arbeitsschutz, fehlender Mietsschutz, Urteile: „Sachzwänge“, Sachen und Zwänge.


IV

Die von Numerus clausus, Berufsverbot, Hochschulrahmengesetz, Maulkorberlass, grandioser Perfektionierung der Unterdrückungsmaschinerie gelähmte, entsetzlich schnell gealterte Neue Linke hockt hinter den Schreibtischen und baut ihre Popanze auf, setzt auf Mythen: „das“ Proletariat – das wahlweise aus Facharbeiterschaft oder mobilem Massenarbeiter besteht – „die revolutionären Portugiesen“ oder gar den „Lumpen“. „Der … das … den“ gibt es nicht, gab es nie. Klassen konstituieren sich im Kampf. In einem Marxismus, der wieder zur Theologie degenerierte, wird Klassenanalyse entweder zum Wunschdenken oder zum platten Objektivismus.




Arbeitsteilung in Fabrik, Universität, Schule und Knast ist unaufgebrochen – Voraussetzung der Vorherrschaft des Kapitalverhältnisses: Heterogenität. Wir finden vor: Technologen, Angestellte, Ingenieure, Meister, Vorarbeiter, Facharbeiter, Fachhilfsarbeiter, dann die Mülleimer, und hinter den Mülleimern Frauen, unqualifizierte Jugendliche, die Nigger aus Anatolien, dem Mezzogiorno, Andalusien.* Im Knast finden wir: rebellische Lumpenbourgeoisie, angepasste Lumpenbourgeoisie,  entwurzelte Arbeiter, von zyklischen Krisen kriminalisierte Kleinbürger, deklassiertes Proletariat – und die Nigger unter den Knackis, jene, die von ihrer Klassengeschichte her noch nie in den Produktionsprozess eingegliedert waren, jene fünfzig Prozent der Heimkinder, deren Sozialisationsprozeß Verbrechen ist und „Verbrecher“ macht.* Ulrike Meinhof: „Hier hat der Staat Erziehungsmonopol. Hier redet ihm keiner bei der Erziehung drein. Hier zeigt er, wie er sich Erziehung vorstellt“ ….

Es sind die letzten, die immer wieder beschworen werden, sie sind der „Bodensatz“ mit seiner „Arbeitsscheue“, nichtsdestotrotz aber voller „krimineller Energie“, die Heim, Knast, Heim, Knast kriegen. Monate, Jahre, Jahrzehnte, Sicherungsverwahrung, deren Jahre im „großen bunten Knast“ draußen auf Dauer weniger ausmachen als die Jahre in Lager, Heim, Asyl, Knast, KZ.
Die „Rückfallquote“ des BRD-Vollzuges beträgt zwischen 80 und 90 %. „Resozialisierung … Rehabilitation … Wiedereingliederung“  - Gewäsch, Propaganda, Augenwischerei. Der moderne Vollzug in der Bundesrepublik orientiert sich an den USA, nicht an Schweden – abgesehen davon, dass die Gehirnwäsche und deren Propagierung in Schweden zum Ausgefeiltesten zählt, was es auf diesem Gebiet gibt.

Die Zukunft des Vollzugs in der BRD heißt: Attika.




V

Um im Knast zu überleben, entwickelten die Knackis in Jahrhunderten ihre Kultur. Und weil sie unterhalb der „Gesellschaft“ ansässig sind, heißt ihre Kultur „Subkultur“. Diese Kultur entwickelte die zum Über – Leben notwendige Formen des „ Unter- Lebens“.* Der Knast spiegelte in verzerrter, aber wahrhaftiger Form die Gesellschaft wieder, ihre Arbeitsteilung, ihre Hierarchie, ihre Laster, Tugenden, ihre Entfremdung und Verdinglichung*. Er spiegelte sie wieder – und wies über sie hinaus: Knast war die auf den Begriff gebrachte, ihrer Ideologien beraubte Gesellschaft. Knast: Dritte Welt in den Metropolen. Das Leben eines Knackis ist ein Dreck wert – er schafft keinen Mehrwert, oder wenigstens so wenig, dass sein Leben durch den Schornstein gejagt werden kann, erfüllt es gewisse Minima nicht – es gibt ja genug von ihnen. Dritte Welt in der Ersten Welt bedeutet: pure Unterdrückung in tausenderlei Formen, vorkapitalistische Befehlsstrukturen, Dressur, Verachtung, Heranziehung eines beliebig austauschbaren, angepassten, schleimigen Menschentypus: der Uncle Tom. Das Versagen der Resozialisations- Agenturen seit Jahrzehnten bedeutet, dass der Strafzweck, die Züchtung einer des Rückgrats beraubten, kriechenden Rasse, nie erreicht wurde, nicht erreicht werden kann. Sie wird nie erreicht, nicht in Kumla, Schweden, der völligen Antizipation des Großen Bruders, wo sich Überleben nur noch auf Monitoren abspielt, nicht in San Quentin oder Attica, nicht in Carabanchel, nicht in Ossendorf, Bruchsal, Werl, Preungesheim, Stammheim, Stadelheim. Die verschiedenen Formen der Resozialisierung sind lediglich verschiedene Formen des kulturellen Genozids.

Im Knast sein – und überleben wollen, bedeutet, solange die Herrschenden nicht verschwunden sind, physisch und psychisch einfach weg: sich anpassen, Sich-anpassen bedeutet nicht „Opportunismus“, kann nicht moralisch gepackt, qualifiziert werden. Wenn du im Schließfach vegetierst, dein Leben immer einen Dreck wert war, wert ist, musst du mit dem Rücken zur Wand kämpfen, lächeln, heucheln, knicksen, deinen Diener machen. Die in der bürgerlichen Gesellschaft herrschende Vereinzelung wird im Knast von den Herrschenden in zunehmenden Maße strategisch und taktisch auf den Begriff gebracht: die Betonzelle(genormt) plus Differenzierung der „Behandlung“ gemäß den Anleitungen des menschenfeindlichsten Behaviorismus. In der Sicht der Herrschenden muss der Knacki eine durch ein Labyrinth hetzende, adrenalinverseuchte Ratte sein: irgendwo, am Ende der Irrgänge aus Willkür, Brutalität, Zynismus, Unlogik und Menschenhass, winkt die „Freiheit“: die Anpassung an die Maloche am Band.

Unterwirf dich oder verreck! Du hast die Wahl zwischen Valium und monitorüberwachter B(eruhigungs-)zelle, zwischen Angeschnallt werden und Schlagstock. Ohne das Maschinengewehr, den Karabiner, die Arsenale, ohne militärtaktische und strategische Begriffe lässt sich ein Knast nicht denken, ohne sie ist er absolut unglaubwürdig.

Man verfeinert zurzeit nur das Instrumentarium: heutige Rollkommandos beherrschen das Zusammenschlagen der in ihren Stahlbetonschließfächern Wehrlosen ohne Zurücklassen von Spuren: Taek-won-do, beidhändig auf die Ohren, seitlich am Hals, Innenseiten der Oberschenkel und –arme, auf Leber, Milz etc. Stellungnahme des Bundesrates zu den geplanten Strafvollzugsgesetzen: Vorschlag, statt der Knüppel die Spritze zu nehmen. Überschrift: Humanität. Realität: höhere Effizienz, weniger Aufsehen.

Andere Lähmungsschläge: Versagen von „Beschäftigung“ oder „Privilegien“, Kronzeugenpraktiken – die angewandt wurden und werden, schon lange bevor das dazupassende Gesetz geschmiert wurde – Aussicht auf Halbstrafe, Zweidrittelstrafe, Bewährung, Angst vor Sicherungsverwahrung (einer Einrichtung aus dem 3. Reich, die nur zu gern beibehalten wurde und bei weitem schlimmer ist als alte, hohe, aber zeitlich begrenzte Zuchthausstrafen).

Aus Amerika und Schweden übernahm man nur das Übelste, Menschenfeindlichste. Die „Knastexotik“ schwindet. Unterleben der Gefangenen wir immer unmöglicher gemacht: die Stationen oder Häuser der neuen Lager sind abgeschottet, das Leben ist bis ins letzte reglementiert. Jahrhundertalte Gewohnheitsrechte von Knackis – des „lieben Friedens willen“ von Kommandanturen früher oft großzügig übersehen, gewährt, manchmal gar gefördert – werden gekappt und liquidiert, die Repression ist wissenschaftlich verfeinert: statt Inquisitionsjustiz Isolationsfolter, statt offenen Totschlags das Treiben in den „Selbst“mord. Anfang 1973 machten in Ossendorf sechs Knackis Suizid. Das erspart die Liquidation. Gefoltert wird nicht aus Lust oder Spaß – Lust ist strafbar, der Sadist aus Anlage kommt selber hinter Gitter – sondern maschinell, institutionell.

Das prägt die Umgangsformen: die Isolation des Einzelnen führt zur Paranoia. Kamera, Monitoren, Kalfaktoren, Spitzel werden aufeinander abgestellt. Das von frühester Jugend an natürliche Verhältnis zur Gewalt, zur Abreaktion von Aggressionen – auch und gerade untereinander – wird vorsätzlich und kalt zerstört. Konnte man sich früher noch mit Wärtern oder Mitgefangenen keilen – es ist keine Schande, von sechs bis zehn Grünen mit Knüppeln zusammengewichst zu werden, „aber so zwei, drei nehm ich mit“ – kommt man heute vor den Richter: Widerstand gegen die Staatsgewalt. Das eskaliert sich, gibt Stempel in den Akten, führt schnell zur Sicherungsverwahrung …. Früher gingst du so oft du konntest zum Arzt, zum Zahnarzt, zum Friseur, zum Fürsorger, zum Pfaffen, in die Kirche – dort waren die Informations-und Warenbörsen, wurde gemaggelt und gemauschelt, wurden Pornos und Tabak“koffer“ getauscht, wurden Tipps gegeben, Zeugen auf-oder abgebaut, Verteidigungsstrategien entwickelt, Streiks und Bambulen geplant: das ist vorbei, die „Vorführungen“ finden in kleinstem Kreise statt, die Gänge und Galerien sind zu räumen, die toten Ecken und Winkel sind inzwischen überwacht, und in der Kirche sitzt du vereinzelt mit drei Mann auf einer riesigen Betbank, misstrauisch von lauter Grünen belauert.




„Papillon“ ist tot. Die „Verrohung des Franz Blum“ ist Exotik, die im Schwinden begriffen ist. Heute liest der goldrandbewaffnete Lagerkommandant (Verwaltungsjurist) schmunzelnd Fallada und „Franz Blum“ oder Charrieres Eskapaden – und lässt denjenigen, der noch auf Flucht sinnt, jahrelang in den Tigerkäfig, die Isolationsfolter, die Spezial-Stahl-Beton oder rundumverglaste Zelle stecken …

Der Knast des Spätkapitalismus räumt zügig mit der „Exotik“ auf. Aus dem Zuchthaus wird die „Vollzugsanstalt“, aus der mosaischen Rache wird die „Behandlung“, aus dem efeu-überwucherten, düsteren Backsteinbau, sternförmig angelegt, wird das klinisch saubere Abbild der Trabantenstadt: der Betonkoloß. An die Stelle des Schlags aus dem Handgelenk mit dem Schlüsselbund trat der Becher Knastkaffee mit einem winzigen Tropfen der Pharmaindustrie. Aus dem uniformierten, angesoffenen Sadisten wird der penible Weißkittel, der seinen „Probanden“ betrachtet wie ein Insekt unter dem Mikroskop. Der Knast von 1974 und danach rottet Sprache, Kommunikation, Interaktion, Solidarität aus. Er ist die Vorwegnahme des Grossen Bruders für die Gesamtgesellschaft. 1984 aber, und das ist das Beruhigende, ist gleichzeitig auch vorkapitalistisch, feudal, mittelalterlich. Produktivkräfte und Herrschaftsform fallen auseinander. 1984 dauert nicht lange


Exkurs 5

…. Wenn die Herrschenden nicht mehr so können, die Beherrschten nicht mehr so wollen – Vorzeichen: Schwund der Massenloyalität, Ansteigen der Kriminalität. Feuer, Terror, Alarm ! Polizei !!!

*Da brechen welche aus. Da machen welche nicht mehr mit. Da werden Gesetze, Tabus gebrochen. Vor der Revolte die Phase des Kannibalismus: die untersten Klassen und Schichten fallen übereinander her.*

Reichtum, immer öffentlicher sichtbar, verliert seinen protestantisch-metaphysischen Charakter. Hinlangen. Sich seinen Teil holen. („Die Deutschen, ein Volk der Vorbestraften?“) Über siebzig Prozent oder mehr der Knackis sitzen wegen Diebstahl oder ähnlichem.

Die Lumpen, so die Herren Marxisten, sind keine Bündnispartner. Abschaum, fehlendes Klassenbewusstsein, „Lumpenproletarischer Strich statt proletarischer Linie“(Berliner Extra-Dienst). Die Spaltung der Beherrschten durch die Herrschenden wird vertieft und verinnerlicht. Man spaltet, statt zu einen. Der Proletarier und sein in Akademikergehirne exiliertes Bewusstsein: edel, hilfreich und gut. Schiller, nicht Marx. Merken nicht, wie versumpft, wie bürgerlich sie geworden sind. Lenins Vorwurf gegenüber der Sozialdämokratie, Hort der Arbeiteraristokratie zu sein, trifft nun Neo-Leninisten. Fleißig, ehrlich, markig … Edelkommunisten und Edelkapitalisten und Edeljournalisten in einer Front.

Die Vulgärmarxisten – man fischt immer nur die Zitate aus den blauen Bänden, die einem ins Konzept passen! - : „Lumpen werden in Krisenzeiten gegen das Proletariat eingesetzt“. *Wessen Söhne aber die Offiziere, Unteroffiziere, Zeitsoldaten der Bundeswehr. Grenzschutz oder Polizei? Wessen Söhne die Zeitnehmer, die REFAschisten, die Streikbrecher, die Werkschützer, die Verfasser der Lehrbücher? Die SA – eine Lumpenorganisation? Die GSG 9 – alles ehemalige Obdachlose?*







*Wer macht die Krise, und wer arbeitet mit ihr? *Wer treibt die von ihr Betroffenen zu Hitler, Mussolini, Filbinger, Dregger? Wer lernt nicht dazu – 1932 in Berlin, Anfang der Siebziger in Reggio, Calabria.?

*Diebe, Mörder, Betrüger, Räuber? Die Herren Vulgärmarxisten besitzen die Chuzpe, nach unten zu gucken, suchen sie welche. Statt nach oben.* Die Geschichte der klassischen Arbeiterbewegung ist die Geschichte der ihrer Mythen. 1933 war die Märchenstunde vorbei.

Und nimmt man ihn zur Kenntnis, den Lumpen, den Erniedrigten und Beleidigten, den Deklassierten, denjenigen, den man mit Karabinerkolben in die Produktion trieb und treibt, den Nigger in seiner ständigen – und stummen – Revolte, dann braucht er „Führung“. Durch wen? Durch die Partei der Arbeiterklasse. *Merke: ein Mob von Lumpen mit einem Politologen an der Spitze ist kein Mob mehr. Ein Mob von Deklassierten in der Revolte, mit sanfter Hand auf harmlose Abwege, in Reformsackgassen geleitet, durch eine andere Partei der Arrrrbeiterklasse, ist kein Mob mehr. Sondern eine Gruppe „empörter Bürger und Demokraten“. *

 So einfach ist das. Die Massen von Lumpen auf dem Friedhof Pere Lachaise, 1871, von Spanien 1936, von Chile in den Poblaciones, sie haben keine Geschichtsschreiber. Die Geschichte der Beziehungen des Proletariats und seiner Organisationen zum Lumpenproletariat ist die Geschichte der Mythen. Und der Instrumentalisierung. Die Vertreter von Lohnarbeit und Kapital stecken in einem System. Kapitalismus – das bedeutet immer Selektion, sei es an der Rampe in Auschwitz, sei es mit Zeugnisnoten. Bei den Aufständen des deutschen Proletariats blieben die Zuchthaustore geschlossen. Das Prinzip der Selektion blieb undurchbrochen.* Wer nur „Freiheit für alle politischen Gefangenen“ fordert, selektiert, hat das Gesicht seiner Gegner angenommen.*

Die Aufhebung der Spaltung der Beherrschten kann somit keine taktische Frage sein, sondern ist Voraussetzung und Bestandteil revolutionärer Strategie.





VI

Im Knast duzen wir uns

Auch im Knast „gesellt sich gleich und gleich“. Beim „Hofgang“ und in der Freizeit tun sich Junkies mit Junkies zusammen, die Penner mit den Pennern, die Türken mit den Türken, die tätowierten Villenmarder mit ebendiesen, die Langhaarigen mit den Langhaarigen usw. Aber: allein durch die räumliche Nähe, Drohung durch „Sicherheit und Ordnung“, die Kasernierung mischen sich die Gefangenengruppen. Die hergebrachte Subkultur weicht auf und macht einer anderen, neuen Platz. Das zumeist aus dem Jiddischen stammende Rotwelsch der alten Knastologen verarmt einerseits, wird andererseits durch Vokabeln aus der Rauschgift-und Politszene angereichert. Das Klopfalfabet kennt fast keiner mehr. Dafür aber kennen heute die Einbrecher und Diebe die Wirkung von Spasmo-Cibalgin* (fünf Zäpfchen gleichzeitig in den Arsch schieben und „Abfahrt“)(*Schmerzmittel, 2003 vom Markt genommen, RadChif)), von Valium und Dope. Karten und Glücksspiele haben nicht mehr die hohen Einsätze wie früher. In den neuen Lagern zerbricht die alte Hackordnung; die Hierarchie der Knackis zerfällt zunehmend. Zinssätze bei Verleihgeschäften sinken. Die Ausplünderung der Ärmsten durch die Armen vermindert sich, die Terms of trade, die Regeln des „Maggelns“ werden fairer.

Viele trauern den „guten alten Zuchthäusern“ nach. In Lagern wie Ossendorf verzichteten viele auf Rechtsmittel wie Berufung oder Revision, der tödlichen Zermürbung durch Beton & klinische Sauberkeit & Sicherheit und Ordnung zu entkommen.

„Lieber scheiss ich im alten Klingelpütz aufn Kübel, als hier vor die Hunde zu gehen…“





Der Isolierung wird immer mehr eine politisch begriffene Solidarität entgegengesetzt: Hungerstreiks in Preungesheim und Tegel, Bruchsal und Butzbach, Ossendorf und Mannheim erkämpfen manchmal winzige Zugeständnisse. Der Reform der Arbeitsorganisation in einigen Lagern – Einführung von Stempeluhr und Stundenlohn (zwischen 28 und 58 Pfennig) – entspricht ein neuer Gefangenentypus: Wer den Knast zur Fabrik macht, macht die Gefangenen zur Klasse, die sich organisiert, zu sich findet, die Kampfformen des Proletariats entdeckt: Streik, Boykott, Sabotage.

Mit dem Ethos des Facharbeiters, der domestizierten und in Reformparteien organisierten Arbeiteraristokratie, hat man nicht viel am Hut. *Die Kämpfe des kasernierten und nicht-kasernierten Lumpenproletariats werden militanter sein als die des mobilen Massenarbeiters. Nicht aus „Vergnügen“, sondern aus Wut. Wem sozialer Aufstieg versperrt ist, kommt (praktisch) nicht dazu, ihn mit Emanzipation zu verwechseln. Wer die Gesetze des Dschungels in ihrer totalen Härte kennen gelernt hat, wird die Härte des Dschungels in den Kampf tragen.*

Berufsverbot? Man hatte nie einen Beruf, oder wenn man einen hatte, war er es nicht wert, ihn zu verteidigen. „Kampf dem Abbau der demokratischen Grundrechte“? Man besaß nie welche, die „Demokratie war noch nie zu uns heruntergestiegen“( Gefangenenrat).

Unterdrückung, Repression, Tränengas, Minenwerfer, Polizei, Grenzschutz? Klassen-erfahrungen, seit man aus dem Mutterleib kam.

Keine andere Klasse wird sich für die Zerstörung von Reformillusionen derart hart rächen wie die der Lumpen. In keiner anderen Klasse waren Reformversprechen auf einen solchen Hunger gestoßen. Die Klasse, die wirklich nur noch ihre „Ketten zu verlieren“ hat, wird immer größer. In den Metropolen, diesmal. Die herrschende Klasse führte gegen die Lumpen schon immer Krieg. „Das Lumpenproletariat, diese Horde von Ausgehungerten … bildet eine der spontansten und radikalsten unter den revolutionären Kräften eines kolonisierten Volkes.“ (Fanon)






Die Verschärfung der Krisen des Weltkapitalismus führt zwangsläufig zu einer immer größer werden Kolonisierung des Volkes – in den Metropolen.



Erst die Vertiefung der Spaltung zwischen den Triebkräften der Sozialen Revolution durch eine elitäre Ideologie treibt die Lumpen dazu, Handlanger der Konterrevolution zu sein.

„Marxisten mögt ihr sein. Aber keine Revolutionäre“, schleuderte der Frankfurter Gefangenenrat den theoretischen Saubermännern in der Linken entgegen. Die Einigung der Volkskräfte und die praktische Anwendung der Solidarität sind Prozesse. In widersprüchlichen Lernprozessen vollzieht sich zurzeit, langsam aber stetig, die Bewusstwerdung der Lumpen in den modernen bundesrepublikanischen Zwangslagern. Wer diese Prozesse stört, hilft den Herrschenden. *Wer Solidarität instrumentalisiert, besorgt das Geschäft der Kolonialherren. Solidarität ist unteilbar, oder sie ist nicht*. Der sich entwickelnde Kampf der Lumpen zum Klassenkampf hin macht Solidarität sinnlich erfahrbar – und setzt sie voraus. Aktiv werden heißt für die Lumpen, das „einzige Mittel zu ergreifen, um vom tierischen Zustand zum menschlichen Zustand zu gelangen“, heißt „ nicht, Politik machen“ (Fanon). Die aktive und solidarische Unterstützung des Kampfes der Lumpen ist für andere Teile des revolutionären Subjekts, des „Gesamtarbeiters“, unabdingbar und lebenswichtig.





Eine „Gewaltfrage“ gibt es für die internierte Klasse nicht. Gewalt ist absolute Praxis, Klassenerfahrung, Klassenalltag. Mehr als alle anderen Klassen weiß das Lumpenproletariat, dass „zwischen Unterdrückern und Unterdrückten keine Frage gelöst wird, es sei denn durch Gewalt“(Fanon). Wer sich nicht die Hände schmutzig machen will, hat gar nicht erst vor anzufangen. Die Lumpen gehören nicht zu denen, die vor Dreck Angst haben. Ihre Perspektive kann auch nicht mehr sein, individuell befreite Sklaven, Freigelassene zu werden. Da hat das Kapital die Schranke gesetzt.

*Das Lumpenproletariat braucht keine „Führer“ aus anderen Klassen, es braucht auch keine Sprüche oder weisen Ratschläge. Es braucht unabdingbar die Solidarität, die organisierte Hilfe jener, die an einer völligen Umwälzung der Welt interessiert sind. Um das „Gewaltverhältnis“ umzudrehen, bedarf es praktischer Mittel. Dann „kommandiert Freitag, und Robinson muss schanzen“ (Engels). Die ständige „Frontexistenz“ (Marx) des Lumpenproletariats lehrt es, welcher Mittel es bedarf. Darüber hat es keine Illusionen. Das unterscheidet Lumpenproletariat von der Lumpenbourgeoisie. Solidarität lernen müssen wir alle.

Knast stellt die genaueste aller möglichen besten (Kauf-und Verkaufs-)Welten dar. Wer im Knast ist, hat gegen die Ehernen Gesetze verstoßen: Mehrwert schaffen und Eigentum achten! Individuell verstoßen. Diesen individuellen, bewusstlosen Protest organisatorisch auf den Begriff zu bringen, am Wesen zu rütteln, statt an Symptomen, dies ist ein langer, ungemein harter Lernprozess. Alles muss getan werden, diesen Prozess vorbehaltlos zu unterstützen, „drinnen“ wie „draußen“.

Wir nennen uns hier „Bruder“, nicht „Genosse“. Das rührt daher, dass zwischen Elbe und Wladiwostok das gleiche Knastsystem herrscht – und die Schließer und Kommandanten dort sich „Genossen“ nennen.





Noch ist Brüderlichkeit im Knast unterentwickelt. Knackis können und müssen von weiblichen Gefangenen lernen, deren Schwesterlichkeit weiter entwickelt ist – und sich nicht am Geschlecht festmacht (die Schließerinnen sind auch Frauen ….)


Die Zukunft des Vollzuges in der Bundesrepublik und Westberlin: Attica. Alles muss getan werden, die Opfer, die es in Attica gab, hier zu verhindern. Nicht dadurch, dass weniger oder gar nicht gekämpft wird, sondern dadurch, dass mehr und umsichtiger, illusionsloser gekämpft wird. Dazu ist es notwendig, dass alle Knast-und „Resozialisierungsgruppen“ der Linken sich bemühen, in ihrer Arbeit den Klassenzusammenhang der Knackis zu berücksichtigen, helfen, ihn wieder herzustellen. Fabrik, Uni, Stadtteil, Knast: eine Front. Der Gesamtarbeiter darf nicht kämpfen, wo der Klassengegner das Schlachtfeld lokalisiert. Krieg herrscht da, wo man ihn hinträgt. Aufbrechen heißt: heute aufbrechen. Nicht erst dann, wenn man Verlierer ist. Aufbrechen heißt: heute aufklären, miteinander reden, den Aufstand planen, schreien, nicht dann, wenn einem die Stimmbänder schon durchgeschnitten sind. Das Ziel setzt die Moral. Und:
Moralist sein heißt für den Kolonisierten etwas Handfestes: es heißt, den Dünkel des Kolonialherren zum Schweigen zu bringen, seine offene Gewalt zu brechen, mit einem Wort: ihn rundweg von der Bildfläche zu vertreiben.“ (Fanon)






Die BRD sei nicht 3.Welt? Der Kapitalismus nicht mit dem Kolonialsystem zu vergleichen? Die Knastkommandantur mit ihren Bütteln nicht mit der Fremdenlegion? Dann komm doch mal her. Oder bleib da, wo du bist – Mannheim und Stammheim in Potenz, Sétif, kommen bald zu dir. Was in Ossendorf, Santa Fu, Stammheim, Mannheim, Bruchsal vorgeht, ist nur die Antizipation dessen, was außerhalb von Ossendorf, Santa Fu, Stammheim, Mannheim und Bruchsal vorgehen wird.

Hier kommt man uns, wie man den Massen in der 3.Welt schon lange kommt. Italienische Arbeiter im „Heißen Herbst“ 1969 hängten bei FIAT dies Plakat auf: „Agnelli ! Vietnam ist hier, in deiner Fabrik.“

Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam….!

 (aus: Peter Paul Zahl: Die Stille und das Grelle, Frankfurt 1981)