Sonntag, 25. März 2018

Texte gegen die Knastgesellschaft: Clara Wichmann " Wir richten uns gegen das Strafprinzip selbst."

Vorbemerkungen: 










"Und darum richten wir uns weder nur gegen die Auswüchse des Zellensystems und der Gefängnisstrafe noch nur gegen das Zellensystem selbst noch nur gegen unser gegenwärtiges Strafsystem in seiner Totalität – wir richten uns gegen das Strafprinzip selbst"

Was wie ein Text aus einer Antirepressionsbroschüre klingt, ist 88 Jahre alt und stammt aus der Schrift „Die Grausamkeit der herrschenden Auffassung über Verbrechen und Strafe“, geschrieben von Clara Wichmann, veröffentlicht in der anarchosyndikalistischen Zeitung „Der freie Arbeiter“ 1922

Geboren in Hamburg, verbrachte Clara den größten Teil ihres Lebens in den Niederlanden, wo ihr Vater als Hochschullehrer arbeitete. Nach ihrem Studium eröffnete Clara im Haus ihrer Eltern für kurze Zeit ein Anwaltsbüro. Bei dieser Arbeit kam sie mehr und mehr zur Erkenntnis, dass Kriminalität ein Produkt bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse ist und trat für eine radikale humane Änderung jeglichen Strafrechtes ein.

Der alten, uralten, aus den Anfangsphasen der Menschheit dauernden Lehre, dass Böses mit Bösem vergolten werden muss, stellen wir ein anderes Lebensprinzip entgegen – richtet nicht, vergeltet nicht, straft nicht. Nur indirekt kann das Verbrechen bekämpft werden – nicht durch Vernichtung, sondern durch das Wecken von Kräften, durch die Umgestaltung vernichtender Tendenzen in Schaffende, Aufbauende




  


In ihrer Kritik an der Idee der Vergeltung und dem Strafprinzip entwickelte sie schon 1920 eine libertäre Rechtsauffassung, die erst heute langsam und immer noch sehr begrenzt Thema wird –
z.b. im Abschaffen des Gefängnisse und dem Hinterfragen jeder Strafe.

Als
Antimilitaristin arbeitete sie ab 1917 mit dem Anarchisten Bart de Ligt in der „Internationalen antimilitaristischen Vereinigung“ zusammen – hier besonders erwähnenswert die Gründung eines Aktionskomitees gegen die bestehenden Auffassungen von Verbrechen und Strafe. Entstanden auch aus der Situation der Kriegsdienstverweigerer des 1. Weltkrieges.

Clara Wichmann engagierte sich zudem um 1910 stark in der Frauenbewegung und schrieb Artikel zu Fragen des Tierrechtes.

Die Rache ist eines Anarchisten unwürdig. Der Morgen, unser Morgen, verfestigt weder Streitereien noch Verbrechen noch Lügen. Er festigt Leben, Liebe, Wissenschaft“(Kurt Wilkens)

Historisch ist die Strafe aus der Rache und dem Rachetrieb entstanden, die in der Vergeltung weiterlebt – in der staatlichen Ordnung genauso wie oft noch in den eigenen oder uns verwandten Reihen dementsprechende Aktionen fast selbstverständlich hervorbringt.



Claras Motivation war zum einen der gewaltlose Widerstand, der sich in der Konsequenz aus der Ablehnung des Prinzip Strafe ergibt und zum anderen dem Eintreten in die anarchistische Gesellschaft. In vier Artikeln, u.a. in „Die Befreiung des Menschen und der Gesellschaft“ begeistert sie sich für die Ideen des Anarcho-Kommunismus.





Text:

Die Grausamkeit der herrschenden Auffassung über Verbrechen und Strafe (1922)




Weshalb wird gestraft?
Für die meisten ist dies nicht einmal eine Frage: für sie versteht es sich von selbst, dass es Gefängnisse, ja sogar Zellengefängnisse geben muss, in denen die Übertreter der Strafgesetze der bestehenden Gesellschaft auf Wochen, Monate oder Jahre eingeschlossen werden. Sie gehen auf Spaziergängen ruhig an diesen Gefängnissen vorüber, und deren Anblick bewegt sie nicht.
Andere, die sich die Frage zumindest einmal vorgelegt haben, fanden es leicht, sie zu beantworten. Das Rechtsbewusstsein, so sagen sie, verlange Vergeltung für geschehenes Unrecht. Oder sie stellen das „Interesse der Gesellschaft“ in den Vordergrund und erklären, dass diese sich gegen die Einbrüche in ihre „Ordnung“ schützen muss, indem sie vom Verbrechenabschreckt, den Verbrecher, soweit es möglich, bessert oder, wo dieses ihrer Ansicht nach unmöglich ist, unschädlich macht.
Diese Betrachtung geht von der Voraussetzung aus, dass der Übertreter der geltenden Strafbestimmungen selbstverständlich ein schlechter Mensch sei, etwa ein Feind der sittlichen Weltordnung, während hingegen diese unsere heutige Gesellschaft, deren Mehrheit ihn verurteilt, eine wahrhaft menschliche Gemeinschaft sei.
Und des Weiteren wird hierbei vorausgesetzt, dass Ausstoßung aus dieser und Schmerzzufügung die zweckmäßigsten Gegenwirkungen den „Verbrechern“ gegenüber darstellen.
Dies alles erachten wir aus dem tiefsten Grund unseres Herzens heraus für verkehrt und irrig: eine heillose Wahnvorstellung, die menschenunwürdige Verhältnisse fortbestehen lässt.
Was ist Recht?
Es ist vor allem nicht wahr, dass unser heutiges Recht das Recht ist: es schützt in erster Linie die besitzenden Klassen, es sanktioniert die bestehenden Eigentumsverhältnisse, als wären diese es wert, um jeden Preis aufrechterhalten und gewahrt zu werden.
Auch in der Vorstellung, die sich die so genannten Unbescholtenen von den Verurteilten machen, liegt Selbsttäuschung. Es ist wohl bequem, sich zu sagen, dass die meisten Verurteilten Minderwertige seien und die meisten Unbescholtenen Menschen besserer Art: aber wahrscheinlich, so einfach ist die Sache nicht.
Zwar unterschätzen wir durchaus nicht die Bedeutung der persönlichen Veranlagung: wir behaupten durchaus nicht, dass es 
nur von den Umständen abhängt, zu welchen Taten ein Mensch kommt; aber wir sehen Veranlagung und Milieu fortwährend in einer ununterbrochenen Wechselwirkung einander beeinflussen.
Man bedenke doch, dass ein verwahrlostes Kind, das unter dauernden Entbehrungen von allem, was das Leben wert macht, aufwächst, eine andere Persönlichkeit wird und zu anderen Taten gelangt, als ein mit derselben Veranlagung unter ganz anderen Verhältnissen lebendes Kind. Bedenkt doch, dass in allen Ländern die übergroße Mehrheit aller Verurteilten zu den nichtbesitzenden Klassen gehört, sogar im prozentualen Verhältnis zur Gesamtbevölkerung gemessen ! Wenn Verbrechen nur die Folge von Mangel an sozialem Empfinden, an Selbstbeherrschung, die Folge von Bosheit oder „Verhärtung des Herzens“ wäre, würde dies dann auch der Fall sein?
Befinden sich etwa keine aus ihrem moralischen Gleichgewicht gebrachten, keine Rücksichtslosen, keine Ungezügelten, die sich nicht beherrschen können, unter denen, die niemals vor dem Strafrichter erscheinen? Und ist es nicht zu allen Zeiten wahr gewesen, dass die Kriminalität mit der sozialen Not sinkt und steigt: dass sie in Kriegszeiten wie jetzt wieder in den Kriegsjahren, unwiderstehlich, durch keine Strafandrohungen aufhaltbar, zunimmt? Wissen wir denn nicht seit langem, das eine auffallende Regelmäßigkeit, ja Gesetzmäßigkeit in der jährlichen Zahl der Verbrechen und Selbstmorde obwaltet, dass es sich hier also nicht um willkürliche Taten von zusammenhanglosen Einzelnen handeln kann?
Nochmals: Wir leugnen nicht, dass es von eines Menschen Veranlagung abhängt, ob er das Opfer der Verhältnisse wird oder nicht; wir leugnen nicht die Macht der selbstbestimmenden Persönlichkeit, sich durch keine Verhältnisse beugen zu lassen; wohl aber bestreiten wir denen, die selbst nichts von all diesem Elend durchgemacht haben, das Recht, kaltherzig und streng gerade an die „Zu-kurz-gekommenen“ die höchsten sittlichen Anforderungen zu stellen! – Und mehr als das: wir glauben, dass diese höchst sittlichen Forderungen, wenn man sie stellt, wahrlich lange nicht immer zur Befolgung der geltenden Gesetze führen, die ja z.B. die militärische Dienstverweigerung und manche Formen des Streiks und der direkten sozialwirtschaftlichen Aktion des Proletariats für strafbar erklären.
Wir glauben im Gegenteil, dass diese Forderungen oftmals Kampf und Ungehorsam gegen die Gesetze verlangen !




Die ungerechte Gesellschaft schafft sich selbst die Ursachen des Verbrechens!
Eine Gesellschaft, die so ziemlich auf dem Kampf Aller gegen Alle beruht, die die Menschen in dem Gedanken erzieht, dass man das Recht habe, sich auf Kosten anderer zu bereichern und Mitmenschen zu übervorteilen und in welcher der Mehrheit die Bedingungen für jedes normale Gedeihen vorenthalten wird, solch eine Gesellschaft schafft sich selbst diepersönlichen und sozialen Ursachen aus denen fortwährend Verbrechen erwachsen. Die persönlichen, indem sie ( durch Unterernährung, Alkoholismus, Wohnungselend) Degeneration verursachen; die sozialen, weil sie immer wieder die Enterbten dazu bringen, in einem vielfach unbewussten Widerstand auf ungesetzlichem Wege sich zu nehmen, was ihnen auf gesetzlichem versagt ist. Und schließlich bringen sie ja auch die prinzipiellen Bekämpfer dieser gesamten „Ordnung“ hervor -diejenigen, die sich gegen das ganze Prinzip des gegenwärtigen politisch-ökonomischen Systems auflehnen, die militärischen Dienstverweigerer, die politischen Verbrecher, wie überhaupt alle, die nur durch das Herrschaftssystem in der jetzigen Gesellschaft als Verbrecher betrachtet und bestraft werden.
Ein Recht, zu bestrafen, hat diese heutige Gesellschaft, in welcher Mangel an Entwicklungsbedingungen für die Normalen und an liebevoller Sorge für die Abnormalen herrscht, gewiss nicht. Die Reaktion der Mehrheit dieser Gesellschaft gegen ihre „Verbrecher“ ist nichts als egoistische Selbstverteidigung, wenn diese sich vor ihrem Gewissen auch unter allerlei Losungen, wie „Handhabung der Ordnung und des Rechts“ verbirgt. Allerlei niedriger oder unwichtiger Interessen wegen glaubt man, es nicht zulassen zu können, dass gestohlen oder eingebrochen wird; deshalb bestraft man es nur. Und dieses Eingreifen in das Leben von Mitmenschen, dieses Einsperren auf Monate und Jahre, um das Eigentumsmonopol an einigen materiellen Gütern zu schützen, das alles findet man ganz richtig und selbstverständlich.
Um solche Fälle handelt es sich bei der Mehrzahl der Strafverfolgungen; aus Schuldigen solcher Taten der Not besteht die Menschheit der Gefängnisinsassen !
Verrohung durch strafende Rückwirkung
Es gibt eine besondere Kriminalität: Verbrechen aus Rohheit, Grausamkeit, Gewinnsucht, besonders von Besitzenden gegen Nichtbesitzende, sexuelle Verbrechen, Morde, leichte und schwere Misshandlungen. Viele werden nun meinen, dass für solche Taten, also überall, wo man es mit wirklichen Verbrechen - oder richtiger gesagt: mit wirklichen Verbrechern oder solchen, die wir dafür halten – zu tun hat, eine angemessene Strafe doch wohl gerechtfertigt sei. Nein, das Rohe dieser Strafreaktion liegt nicht nur darin, dass eine Gesellschaftsordnung, die selbst fortwährend die Bedingungen der Kriminalität hervorbringt, die selbst (in der Gestalt von Kriegen und wirtschaftlicher Ausbeutung) fortwährend das Verbrechen im großen gutheißt, diejenigen bedroht und straft, die ihre persönlichen Interessen angreifen.
Das Rohe liegt an und für sich schon in der Art der strafenden Rückwirkung selbst.

Denn vergegenwärtigen wir uns jene
 wirklichen Verbrechen, die wirklich „Besserung“ vonnöten hätten? Was erreicht die Strafe bei ihnen?




Die Strafe drückt sie herab, erniedrigt, entwürdigt sie noch mehr, nimmt ihnen den letzten Rest von Widerstandskraft. Vom Beginn des Strafprozesses an werden sie als Feinde der Gesellschaft betrachtet und ausgestoßen, während sie (
auch und gerade die Degenerierten unter ihnen) mehr als andere, Vereinsamte sind und mehr als andere Verständnis vonnöten hätten. Durch all dies wird die innere Entwicklung, die auf jede Tat, auch auf jede Untat folgt, abgebrochen; der Angeklagte kehrt sich gegen seine Ankläger, und sein innerer Genesungsprozess wird zerstört.
Dem Wesen nach tritt man noch heutigentags dem Verbrecher nicht mit dem Empfinden entgegen, einen Menschen vor sich zu haben, sondern er wird gleich einer Sache behandelt und eingeschlossen. Alles, was den Namen „Menschlichkeit“ verdient, wird ihm im Gefängnis vorenthalten; nur sein nacktes Leben wird dort erhalten. Nicht einmal die Möglichkeit seine besseren Vorsätze in die Tat umzusetzen   hat er dort; und deshalb ist jede Besserung des Verbrechers durch das Gefängnis unmöglich. Das Gefängnis kann nicht bessern.
Kann es abschrecken? Nur sehr wenig. Steigerung und Senkung der Kriminalität werden der Hauptsache nach durch ganz andere Faktoren bestimmt als durch die präventive Einwirkung der Strafe; das hat sich doch wahrlich in den Kriegsjahren wieder gezeigt; das geht auch aus der großen Zahl der Rückfälligen hervor. Vor allem aber ist das ganze Abschreckungsprinzip unsittlich, weil es Menschen nur als Mittel betrachtet.
Aber wir müssen sie doch unschädlich machen, nicht wahr? Schon der Ausdruck allein ist unziemlich. Und das Resultat solchen Strebens ist nur, dass viele das Gefängnis „schädlicher“ verlassen, als sie es betreten haben. Dies eben ist das Barbarische und Rückständige: Der ganze Strafbegriff ist negativ.
Erweckt doch lieber im Menschen das Gute, tut, was ihr könnt, um sie stark zu machen, um alle positiven, aufbauenden Kräfte in ihnen wachsen zu lassen; aber beabsichtigt nicht, sie „unschädlich“ zu machen. Und insofern, als es dann unter den Verbrechern doch noch einzelne gibt. „Unverbesserliche“, in denen nichts Gutes mehr zu wecken möglich scheint, die uns ihrem ganzen Wesen nach untermenschlich vorkommen, Opfer der Degeneration sind – so betrachte und behandle man diese als Kranke, und denke so wenig daran, sie zu „strafen“, wie man heutzutage Irrsinnige noch straft,

Kritik an Vergeltungsidee und Strafprinzip
Jedoch stärker als alle diese „Zwecke“, die man mit der Strafe erzwingen will, lebt in den Menschen noch die alte Vergeltungsidee, in der die Rache verborgen weiterlebt. Diese verlangt, dass demjenigen, der Leid verursachte, auch wieder Leid geschehen soll, sie will alles „verrechnen“, alles „begleichen“. Das eigentliche Strafrecht ist nur eine ihrer Äußerungen, wir finden sie auf allen Gebieten des persönlichen und sozialen Lebens ebenfalls. Gerade dieses primitive, auf Rachetrieben beruhende Prinzip ist es, das revolutioniert werden muss.

Und darum richten wir uns weder gegen die Auswüchse des Zellensystems und der Gefängnisstrafe, noch nur gegen das Zellensystem selbst – von dessen Schädlichkeit wir übrigens tief überzeugt sind – noch sogar nur gegen unser gegenwärtiges Strafsystem in seiner Totalität. – Wir richten uns gegen das Strafprinzip selbst. 




 
So wie dieses es lehrt, darf das Verhältnis von Mensch zu Mensch nicht sein, so dürfen Menschen einander nicht gegenüberstehen.
Der alten, uralten, aus den Anfangsphasen der Menschheit datierenden Lehre, dass Böses mit Bösem vergolten werden muss, stellen wir ein anderes Lebensprinzip entgegen: Richtet nicht! Vergeltet nicht! Straft nicht! Belohnt nicht!
Aber trachtet mit aller Kraft, die in Euch ist, eine wahrhaft menschliche Gemeinschaft zu schaffen, in der die Bedingungen für Wachstum und Entwicklung eines jeden gegeben sind: und trachtet, in Euch selbst und anderen das Böse 
durch das Gute zu besiegen! Nur indirekt kann das Verbrechen bekämpft werden; nicht durch Vernichtung, sondern durch das Wecken von Kräften, durch die Umgestaltung vernichtender Tendenzen in schaffende, aufbauende.
Strafrechtsreformen genügen nicht!
Und weil die Reformen, die man gegenwärtig im Strafrecht vornimmt, noch nicht von dieser Idee getragen werden, darum genügen sein uns nicht. Gewiss war ein Fortschritt, als man die Jugendgesetzgebung einführte, gewiss war die bedingte Verurteilung ein Fortschritt; gewiss wird es eine Verbesserung sein, wenn man die Gefangenen wenigstens ausreichend ernähren und versorgen und sich bemühen wird, ihre Widerstandskraft zu erhöhen, anstatt sie, wie jetzt, ermattet und verblödet aus dem Gefängnis zu entlassen; wenn man dies Zellensystem abschaffen wird; wenn das Publikum dem entlassenen Sträfling auf menschenwürdige Weise entgegenkommt.
Aber durch all diese Reformen innerhalb des Rahmens der heutigen Gesellschaft und des heutigen Strafrechts – innerhalb jener sind sie nicht einmal alle möglich – wird die Quelle des
 Massenverbrechens nicht verstopft und das alte Strafprinzip wird in seiner Gesamtheit unangefochten belassen.
Wir hingegen kommen nicht zu Euch, ihr Unbescholtenen, um euer Mitleid mit den Gefangenen zu erregen und um einige armselige Verbesserungen in der Art und Weise, wie ihr sie, eure Mitmenschen, behandeln wollt, zu erbitten.
Wir wenden uns an euch, Unbescholtene und Verurteilte, und rufen euch auf zur Wahrung unserer Menschenwürde! Unbescholtene, überprüft eure Gesellschaft und euren Strafbegriff, Angeklagte, Verurteilte, Entlassene, fühlt euch als Menschen!
Und vor allem geht es uns um das Folgende: Laß uns doch nicht immer die Gesinnungsänderung, die „Besserung“ nur von den Verbrechern verlangen ! Was für eine Gesinnung spricht denn aus unserer Haltung ihnen gegenüber? Ist hier irgendwelche Opferbereitschaft, irgendwelches Brüderlichkeitsgefühl?
Es könnte ja alles so anders sein! In einer wirklichen Gemeinschaft würde Bereitwilligkeit herrschen, um uns gegenseitig zu helfen, unsere Verfehlungen zu überwinden; wir würden dafür manch unmittelbares „Interesse“ ganz selbstverständlich opfern wollen; wir würden uns gegenseitig zu verstehen und zu stützen suchen. Wir würden nicht, wie jetzt, vor allem Acht geben auf die „bedrohten Rechtsgüter“, sondern auf den Menschen, der mit sich selbst zu kämpfen hat – wir würden uns bewusst sein, dass es jedes Mal unser aller Fehler war, wenn ein Mitmensch in diesem Kampfe unterlag.
Und deshalb – obwohl wir jede, jedoch nur wirkliche und aufrichtige Reform, die jetzt im Strafrecht und Strafsystem eingeführt wird, willkommen heißen – unser Trachten geht weiter: wir verlangen radikale Umbildung, keine teilweise Verbesserung. Wir sehen ein anderes Prinzip tagen: das einer neuen Zeit, einer geschwisterlichen Menschheit, die immer mehr mit dem Strafprinzip überhaupt brechen muss.

(aus: Graswurzelrevolution, 9/88)



Dienstag, 6. März 2018

"Es erscheint nur unmöglich, bis es fertig ist."--- was machen Abolitionist*innen?



Abolitionismus war schon immer ein mutiges Projekt.




Ob als Antwort auf das Privateigentum und die Sklaverei des 19. Jahrhunderts oder auf Gefängnisse im letzten halben Jahrhundert haben diese Bewegungen nicht nur konservative Kritiker, sondern Liberale, Progressive und sogar einige Radikale verunsichert. Die hartnäckige Unmittelbarkeit der Forderung stört diejenigen, die auf die Lösung hartnäckiger sozialer Probleme im Rahmen der bestehenden Ordnung hoffen. Für sie ist Abschaffung unpraktisch utopisch und daher nicht pragmatisch.

Kritiker*innen verwerfen die Abschaffung von Gefängnissen oft ohne ein klares Verständnis dessen, was es überhaupt ist. Einige von ihnen beschreiben das Ziel der Abschaffung von Gefängnissen als eine fieberhafte Forderung, alle Gefängnisse heute zu zerstören. Aber diese Behauptung zeigt wenig Wissen über die langwährende Geschichte z.b. der Abschaffung der Sklaverei oder der Todesstrafe
Für uns, Menschen mit jahrzehntelangen Erfahrungen in der Antiknastbewegung ist Abschaffung der Gefängnisse sowohl ein Leitstern als auch eine praktische Notwendigkeit.

Von zentraler Bedeutung für die Abschaffung der Sklaverei waren die vielen Kämpfe für nicht reformistische Reformen - jene Maßnahmen, die die Macht eines repressiven Systems verringern und gleichzeitig die Unfähigkeit des Systems, die von ihm verursachten Krisen zu lösen, beleuchten.
Dies ist der Ausgangspunkt der Abschaffung, die eine radikale Kritik an Gefängnissen und anderen Formen der Staatsgewalt verbindet mit einer umfassenden transformativen Vision.









Diese Strategien und Taktiken harmonieren, inspirieren und sind inspiriert von vielen anderen linken Traditionen. So wie im Kampf zur Abschaffung der Todesstrafe.“Gefängnisse und die furchtbaren Bedingungen..beides gehört zusammen“. Es geht „um Bestrafung, Lagerhaltung und Kontrolle.Dies untergräbt systematisch genau die Werte und Dinge, die wir brauchen, um gesund zu sein“( Rose Braz, neben Angela Davis Mitbegründerin von „Critical Resistance")




Abolitionist*innen haben daran gearbeitet, die Einzelhaft und die Todesstrafe zu beenden, den Bau neuer Gefängnisse zu stoppen,die Menschen aus dem Gefängnis zu befreien, der Ausweitung und Verschärfung der Strafe durch Gesetze und Überwachung entgegenzutreten, und alternative Formen der Konfliktlösung zu entwickeln, die sich nicht auf das Strafverfahren stützen.

Abolitionist*innen weigern sich, das Paradigma zu befolgen, in dem "Gefängnisse [als] gemeinsame Lösungen für soziale Probleme dienen".

Das oft benutzte Argument, eine breite Öffentlichkeit sei dafür nicht zu gewinnen, missversteht oder will nicht verstehen, wie sich soziale Veränderungen in der Geschichte entwickelt haben. Der Kampf der Frauen um Gleichheit im Jahre 1912, die Kämpfe der IWW in den 20erJahren, die Bürgerrechtsbewegungen in den 50er Jahren... die Geschichte liefert sicher noch weitere Fälle, wo Nelson Mandelas Satz, dass „es nur unmöglich erscheint, bis es fertig ist“ zutrifft.

Ja, eher wächst, nun auch hier im deutschsprachigen Raum, die Aussicht auf ein grösseres Bewusstsein für wenn nicht Abschaffung so doch wachsende Kritik am System Gefängnis, auch wenn dies in einer von den Herrschenden gesteuerten Öffentlichkeit mit der immer aufs Neue hergestellten Inszenierungen von Krisen entgegengearbeitet wird.

Seit Jahrzehnten entwickelt sich in den USA eine immer grösser werdende Verbundenheit im Kampf gegen den Industriekomplex des Gefängnisses… Im Jahre 2000 trafen sich Tausende bei einem Treffen von Incite!, die die rassistische und geschlechtsspezifische Gewalt zum Thema machten..mit dem Erfolg, dass sich bei einem Sozialforum 2010 in Detroit Aktivist*innen in täglichen Zusammenkünften mit dem Thema Strafe beschäftigten, über „Knastjustiz“ diskutierten. In einer verabschiedeten Erklärung sprachen sie davon, die „Vision der Gerechtigkeit und Solidarität gegenüber den Gefangenen“ zu leben und den Widerstand gegen „Gefangenschaft, Kontrolle und alle Formen politischer Repression“ aufzunehmen. Der Gefängnisindustriekomplex gehört abgeschafft.

Dies war auch ein zentrales Thema der Occupy Bewegung, ist es bei „Black Lives Matter“ und anderen populären Aufständen der letzten Jahre in den USA.
Abolitionist*innen waren massgeblich bei den Kampagen für die Freilassung von Marissa Alexander, Chelsea Manning, Bresha Meadows beteiligt. Diese Kampagnen, augenscheinlich für die Freilassung einzelner Gefangenen, wurde gleichzeitig genutzt, um eine öffentliche Aufklärung über staatliche Gewalt und ihrer Verbindung zu patriarchalischer Gewalt durchzuführen.



Aber auch tägliche Fragen des Überlebens stehen im Fokus der Diskussionen.

Welche Bedingungen finden die Menschen vor, die aus den Gefängnissen entlassen worden?
Die Bezeichnung „Wiedereintritt in die Gesellschaft“ oder „Re-sozialisierung“ sind Begriffe, die zu Recht in der Antiknastbewegung auf Unverständnis stossen… sind doch viele von ihnen schon vor ihrer Inhaftierung von der Gesellschaft ausgegrenzt worden. Das verstärkt den Wunsch, den Willen, die Gesellschaft zu verändern, die Lebensbedingungen der Menschen, bevor sie überhaupt
von dem gegenwärtigen System kriminalisiert wurden. Dies ist allerdings ohne eine radikale, von mir aus revolutionäre Umgestaltung nicht möglich… Ideen ja teilweise schon Bewegungen, wie die der „Transformative Justice“, die sich aus den o.a. Gruppen entwickelt haben und hier im deutschsprachigen Raum -immerhin- von einigen Anarchist*innen aufgenommen werden, sind Schritte, die dies bewerkstelligen könnten..

Es gibt weiterhin viele Fragen, die wir uns stellen müssen, Fragen innerhalb unserer Zusammenkünfte, Diskussionen und Handlungen, Fragen und Antworten auf die aktuell stattfindenen Strafverschärfungen und vor allem auf die vorhandenen und wachsenden Barrieren, die sich einem grundlegenden Wandel entgegenstellen werden, aber der Bedarf für eine weitreichende Debatte über das Straf und Knastsystem wird eher dadurch notwendiger denn je, aber es muss eine Debatte sein, die sich mit dem beschäftigt, was vor Ort mit den Menschen und ihrer Organisierung erreicht werden kann und nicht mit dem, was an Aufklebern an Laternenmästen oder in bestimmten sozialen Medien existiert.

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W. (für Abolisha)



Nach einem Text von Berger/Kaba/Stein .... "What Abolitionst do" ...