"Und
darum richten wir uns weder nur gegen die Auswüchse des
Zellensystems und der Gefängnisstrafe noch nur gegen das
Zellensystem selbst noch nur gegen unser gegenwärtiges Strafsystem
in seiner Totalität – wir richten uns gegen das Strafprinzip
selbst"
Was
wie ein Text aus einer Antirepressionsbroschüre klingt, ist 88 Jahre
alt und stammt aus der Schrift „Die
Grausamkeit der herrschenden Auffassung über Verbrechen und Strafe“,
geschrieben von Clara
Wichmann,
veröffentlicht in der anarchosyndikalistischen Zeitung „Der
freie Arbeiter“
1922
Geboren
in Hamburg, verbrachte Clara den größten Teil ihres Lebens in den
Niederlanden, wo ihr Vater als Hochschullehrer arbeitete. Nach ihrem
Studium eröffnete Clara im Haus ihrer Eltern für kurze Zeit ein
Anwaltsbüro. Bei dieser Arbeit kam sie mehr und mehr zur Erkenntnis,
dass Kriminalität ein Produkt bestimmter gesellschaftlicher
Verhältnisse ist und trat für eine radikale humane Änderung
jeglichen Strafrechtes ein.
Der
alten, uralten, aus den Anfangsphasen der Menschheit dauernden Lehre,
dass Böses mit Bösem vergolten werden muss, stellen wir ein anderes
Lebensprinzip entgegen – richtet nicht, vergeltet nicht, straft
nicht. Nur indirekt kann das Verbrechen bekämpft werden – nicht
durch Vernichtung, sondern durch das Wecken von Kräften, durch die
Umgestaltung vernichtender Tendenzen in Schaffende, Aufbauende
In
ihrer Kritik an der Idee der Vergeltung und dem Strafprinzip
entwickelte sie schon 1920 eine libertäre Rechtsauffassung, die erst
heute langsam und immer noch sehr begrenzt Thema wird –
z.b. im Abschaffen des Gefängnisse und dem Hinterfragen jeder Strafe.
z.b. im Abschaffen des Gefängnisse und dem Hinterfragen jeder Strafe.
Als Antimilitaristin arbeitete sie ab 1917 mit dem Anarchisten Bart de Ligt in der „Internationalen antimilitaristischen Vereinigung“ zusammen – hier besonders erwähnenswert die Gründung eines Aktionskomitees gegen die bestehenden Auffassungen von Verbrechen und Strafe. Entstanden auch aus der Situation der Kriegsdienstverweigerer des 1. Weltkrieges.
Clara
Wichmann engagierte sich zudem um 1910 stark in der Frauenbewegung
und schrieb Artikel zu Fragen des Tierrechtes.
Die
Rache ist eines Anarchisten unwürdig. Der Morgen, unser Morgen,
verfestigt weder Streitereien noch Verbrechen noch Lügen. Er festigt
Leben, Liebe, Wissenschaft“(Kurt
Wilkens)
Historisch
ist die Strafe aus der Rache und dem Rachetrieb entstanden, die in
der Vergeltung weiterlebt – in der staatlichen Ordnung genauso wie
oft noch in den eigenen oder uns verwandten Reihen dementsprechende
Aktionen fast selbstverständlich hervorbringt.
Claras
Motivation war zum einen der gewaltlose Widerstand, der sich in der
Konsequenz aus der Ablehnung des Prinzip Strafe ergibt und zum
anderen dem Eintreten in die anarchistische Gesellschaft. In vier
Artikeln, u.a. in „Die
Befreiung des Menschen und der Gesellschaft“
begeistert sie sich für die Ideen des Anarcho-Kommunismus.
Text:
Weshalb
wird gestraft?
Für
die meisten ist dies nicht einmal eine Frage: für sie versteht es
sich von selbst, dass es Gefängnisse, ja sogar Zellengefängnisse
geben muss, in denen die Übertreter der Strafgesetze der bestehenden
Gesellschaft auf Wochen, Monate oder Jahre eingeschlossen werden. Sie
gehen auf Spaziergängen ruhig an diesen Gefängnissen vorüber, und
deren Anblick bewegt sie nicht.
Andere,
die sich die Frage zumindest einmal vorgelegt haben, fanden es
leicht, sie zu beantworten. Das Rechtsbewusstsein, so sagen sie,
verlange Vergeltung für
geschehenes Unrecht. Oder sie stellen das „Interesse der
Gesellschaft“ in den Vordergrund und erklären, dass diese sich
gegen die Einbrüche in ihre „Ordnung“ schützen muss, indem sie
vom Verbrechenabschreckt,
den Verbrecher, soweit es möglich, bessert oder,
wo dieses ihrer Ansicht nach unmöglich ist, unschädlich
macht.
Diese
Betrachtung geht von der Voraussetzung aus, dass der Übertreter der
geltenden Strafbestimmungen selbstverständlich ein schlechter Mensch
sei, etwa ein Feind der sittlichen Weltordnung, während hingegen
diese unsere heutige Gesellschaft, deren Mehrheit ihn verurteilt,
eine wahrhaft menschliche Gemeinschaft sei.
Und des Weiteren wird hierbei vorausgesetzt, dass Ausstoßung aus dieser und Schmerzzufügung die zweckmäßigsten Gegenwirkungen den „Verbrechern“ gegenüber darstellen.
Und des Weiteren wird hierbei vorausgesetzt, dass Ausstoßung aus dieser und Schmerzzufügung die zweckmäßigsten Gegenwirkungen den „Verbrechern“ gegenüber darstellen.
Dies
alles erachten wir aus dem tiefsten Grund unseres Herzens heraus für
verkehrt und irrig: eine heillose Wahnvorstellung, die
menschenunwürdige Verhältnisse fortbestehen lässt.
Was
ist Recht?
Es
ist vor allem nicht wahr, dass unser heutiges Recht das Recht ist:
es schützt in erster Linie die besitzenden Klassen, es sanktioniert
die bestehenden Eigentumsverhältnisse, als wären diese es wert, um
jeden Preis aufrechterhalten und gewahrt zu werden.
Auch
in der Vorstellung, die sich die so genannten Unbescholtenen von den
Verurteilten machen, liegt Selbsttäuschung. Es ist wohl bequem, sich
zu sagen, dass die meisten Verurteilten Minderwertige seien und die
meisten Unbescholtenen Menschen besserer Art: aber wahrscheinlich, so
einfach ist die Sache nicht.
Zwar unterschätzen wir durchaus nicht die Bedeutung der persönlichen Veranlagung: wir behaupten durchaus nicht, dass es nur von den Umständen abhängt, zu welchen Taten ein Mensch kommt; aber wir sehen Veranlagung und Milieu fortwährend in einer ununterbrochenen Wechselwirkung einander beeinflussen.
Zwar unterschätzen wir durchaus nicht die Bedeutung der persönlichen Veranlagung: wir behaupten durchaus nicht, dass es nur von den Umständen abhängt, zu welchen Taten ein Mensch kommt; aber wir sehen Veranlagung und Milieu fortwährend in einer ununterbrochenen Wechselwirkung einander beeinflussen.
Man
bedenke doch, dass ein verwahrlostes Kind, das unter dauernden
Entbehrungen von allem, was das Leben wert macht, aufwächst,
eine andere Persönlichkeit
wird und zu anderen Taten
gelangt, als ein mit derselben Veranlagung unter ganz anderen
Verhältnissen lebendes Kind. Bedenkt doch, dass in allen Ländern
die übergroße Mehrheit aller Verurteilten zu
den nichtbesitzenden Klassen
gehört, sogar im prozentualen Verhältnis zur Gesamtbevölkerung
gemessen ! Wenn Verbrechen nur die Folge von Mangel an sozialem
Empfinden, an Selbstbeherrschung, die Folge von Bosheit oder
„Verhärtung des Herzens“ wäre, würde dies dann auch der
Fall sein?
Befinden
sich etwa keine aus
ihrem moralischen Gleichgewicht gebrachten, keine Rücksichtslosen,
keine Ungezügelten, die sich nicht beherrschen können, unter denen,
die niemals vor dem Strafrichter erscheinen? Und ist es nicht zu
allen Zeiten wahr gewesen, dass die Kriminalität mit der sozialen
Not sinkt und steigt: dass sie in Kriegszeiten wie jetzt wieder in
den Kriegsjahren, unwiderstehlich, durch keine Strafandrohungen
aufhaltbar, zunimmt? Wissen wir denn nicht seit langem, das eine
auffallende Regelmäßigkeit, ja Gesetzmäßigkeit in der jährlichen
Zahl der Verbrechen und Selbstmorde obwaltet, dass es sich hier also
nicht um willkürliche Taten von zusammenhanglosen Einzelnen handeln
kann?
Nochmals:
Wir leugnen nicht, dass es von eines Menschen Veranlagung abhängt,
ob er das Opfer der Verhältnisse wird oder nicht; wir leugnen nicht
die Macht der selbstbestimmenden Persönlichkeit, sich durch keine
Verhältnisse beugen zu lassen; wohl aber bestreiten wir denen, die
selbst nichts von all diesem Elend durchgemacht haben, das Recht,
kaltherzig und streng gerade an die „Zu-kurz-gekommenen“ die
höchsten sittlichen Anforderungen zu stellen! – Und mehr als das:
wir glauben, dass diese höchst sittlichen Forderungen, wenn man
sie stellt, wahrlich lange nicht immer zur Befolgung der geltenden
Gesetze führen, die ja z.B. die militärische Dienstverweigerung und
manche Formen des Streiks und der direkten sozialwirtschaftlichen
Aktion des Proletariats für strafbar erklären.
Wir
glauben im Gegenteil, dass diese Forderungen oftmals Kampf und
Ungehorsam gegen die Gesetze verlangen !
Die
ungerechte Gesellschaft schafft sich selbst die Ursachen des
Verbrechens!
Eine
Gesellschaft, die so ziemlich auf dem Kampf Aller gegen Alle beruht,
die die Menschen in dem Gedanken erzieht, dass man das Recht habe,
sich auf Kosten anderer zu bereichern und Mitmenschen zu
übervorteilen und in welcher der Mehrheit die Bedingungen für jedes
normale Gedeihen vorenthalten wird, solch eine Gesellschaft schafft
sich selbst diepersönlichen und sozialen Ursachen
aus denen fortwährend Verbrechen erwachsen. Die persönlichen, indem
sie ( durch Unterernährung, Alkoholismus, Wohnungselend)
Degeneration verursachen; die sozialen, weil sie immer wieder die
Enterbten dazu bringen, in einem vielfach unbewussten Widerstand auf
ungesetzlichem Wege sich zu nehmen, was ihnen auf gesetzlichem
versagt ist. Und schließlich bringen sie ja auch
die prinzipiellen Bekämpfer
dieser gesamten „Ordnung“ hervor -diejenigen, die sich gegen das
ganze Prinzip des gegenwärtigen politisch-ökonomischen Systems
auflehnen, die militärischen Dienstverweigerer, die politischen
Verbrecher, wie überhaupt alle, die nur durch das Herrschaftssystem
in der jetzigen Gesellschaft als Verbrecher betrachtet und bestraft
werden.
Ein
Recht, zu bestrafen, hat diese heutige Gesellschaft, in welcher
Mangel an Entwicklungsbedingungen für die Normalen und an
liebevoller Sorge für die Abnormalen herrscht, gewiss nicht. Die
Reaktion der Mehrheit dieser Gesellschaft gegen ihre „Verbrecher“
ist nichts als egoistische
Selbstverteidigung,
wenn diese sich vor ihrem Gewissen auch unter allerlei Losungen, wie
„Handhabung der Ordnung und des Rechts“ verbirgt. Allerlei
niedriger oder unwichtiger Interessen wegen glaubt man, es nicht
zulassen zu können, dass gestohlen oder eingebrochen wird; deshalb
bestraft man es nur. Und dieses Eingreifen in das Leben von
Mitmenschen, dieses Einsperren auf Monate und Jahre, um das
Eigentumsmonopol an einigen materiellen Gütern zu schützen, das
alles findet man ganz richtig und selbstverständlich.
Um
solche Fälle handelt es sich bei der Mehrzahl der Strafverfolgungen;
aus Schuldigen solcher Taten der Not besteht die Menschheit der
Gefängnisinsassen !
Verrohung
durch strafende Rückwirkung
Es
gibt eine besondere Kriminalität: Verbrechen aus Rohheit,
Grausamkeit, Gewinnsucht, besonders von Besitzenden gegen
Nichtbesitzende, sexuelle Verbrechen, Morde, leichte und schwere
Misshandlungen. Viele werden nun meinen, dass für solche Taten, also
überall, wo man es mit wirklichen Verbrechen -
oder richtiger gesagt: mit wirklichen Verbrechern oder solchen, die
wir dafür halten – zu tun hat, eine angemessene Strafe doch wohl
gerechtfertigt sei. Nein,
das Rohe dieser Strafreaktion liegt nicht nur darin, dass eine
Gesellschaftsordnung, die selbst fortwährend die Bedingungen der
Kriminalität hervorbringt, die selbst (in der Gestalt von Kriegen
und wirtschaftlicher Ausbeutung) fortwährend das Verbrechen im
großen gutheißt,
diejenigen bedroht und straft, die ihre persönlichen Interessen
angreifen.
Das Rohe liegt an und für sich schon in der Art der strafenden Rückwirkung selbst.
Denn vergegenwärtigen wir uns jene wirklichen Verbrechen, die wirklich „Besserung“ vonnöten hätten? Was erreicht die Strafe bei ihnen?
Das Rohe liegt an und für sich schon in der Art der strafenden Rückwirkung selbst.
Denn vergegenwärtigen wir uns jene wirklichen Verbrechen, die wirklich „Besserung“ vonnöten hätten? Was erreicht die Strafe bei ihnen?
Die Strafe drückt sie herab, erniedrigt, entwürdigt sie noch mehr, nimmt ihnen den letzten Rest von Widerstandskraft. Vom Beginn des Strafprozesses an werden sie als Feinde der Gesellschaft betrachtet und ausgestoßen, während sie (auch und gerade die Degenerierten unter ihnen) mehr als andere, Vereinsamte sind und mehr als andere Verständnis vonnöten hätten. Durch all dies wird die innere Entwicklung, die auf jede Tat, auch auf jede Untat folgt, abgebrochen; der Angeklagte kehrt sich gegen seine Ankläger, und sein innerer Genesungsprozess wird zerstört.
Dem
Wesen nach tritt man noch heutigentags dem Verbrecher nicht mit dem
Empfinden entgegen, einen Menschen vor
sich zu haben, sondern er wird gleich einer Sache behandelt und
eingeschlossen. Alles, was den Namen „Menschlichkeit“ verdient,
wird ihm im Gefängnis vorenthalten; nur sein nacktes Leben wird dort
erhalten. Nicht einmal die Möglichkeit seine besseren Vorsätze in
die Tat umzusetzen
hat er dort; und deshalb
ist jede Besserung des Verbrechers durch das Gefängnis unmöglich.
Das Gefängnis kann nicht bessern.
Kann
es abschrecken? Nur sehr wenig. Steigerung und Senkung der
Kriminalität werden der Hauptsache nach durch ganz andere Faktoren
bestimmt als durch die präventive Einwirkung der Strafe; das hat
sich doch wahrlich in den Kriegsjahren wieder gezeigt; das geht auch
aus der großen Zahl der Rückfälligen hervor. Vor allem aber ist
das ganze Abschreckungsprinzip unsittlich,
weil es Menschen nur
als Mittel betrachtet.
Aber
wir müssen sie doch unschädlich machen, nicht wahr? Schon der
Ausdruck allein ist unziemlich. Und das Resultat solchen Strebens ist
nur, dass viele das Gefängnis „schädlicher“ verlassen, als sie
es betreten haben. Dies eben ist das Barbarische und Rückständige:
Der ganze Strafbegriff ist negativ.
Erweckt
doch lieber im Menschen das Gute, tut, was ihr könnt, um sie stark
zu machen, um alle positiven, aufbauenden Kräfte in ihnen wachsen zu
lassen; aber beabsichtigt nicht, sie „unschädlich“ zu machen.
Und insofern, als es dann unter den Verbrechern doch
noch einzelne gibt.
„Unverbesserliche“, in denen nichts Gutes mehr zu wecken möglich
scheint, die uns ihrem ganzen Wesen nach untermenschlich vorkommen,
Opfer der Degeneration sind – so betrachte und behandle man diese
als Kranke, und denke so wenig daran, sie zu „strafen“, wie man
heutzutage Irrsinnige noch straft,
Kritik
an Vergeltungsidee und Strafprinzip
Jedoch
stärker als alle diese „Zwecke“, die man mit der Strafe
erzwingen will, lebt in den Menschen noch die alte Vergeltungsidee,
in der die Rache verborgen weiterlebt. Diese verlangt, dass
demjenigen, der Leid verursachte, auch wieder Leid geschehen soll,
sie will alles „verrechnen“, alles „begleichen“. Das
eigentliche Strafrecht ist nur eine ihrer
Äußerungen, wir finden sie auf allen Gebieten des persönlichen und
sozialen Lebens ebenfalls. Gerade dieses primitive, auf Rachetrieben
beruhende Prinzip ist es, das revolutioniert werden muss.
Und darum richten wir uns weder gegen die Auswüchse des Zellensystems und der Gefängnisstrafe, noch nur gegen das Zellensystem selbst – von dessen Schädlichkeit wir übrigens tief überzeugt sind – noch sogar nur gegen unser gegenwärtiges Strafsystem in seiner Totalität. – Wir richten uns gegen das Strafprinzip selbst.
So wie dieses es lehrt, darf das Verhältnis von Mensch zu Mensch nicht sein, so dürfen Menschen einander nicht gegenüberstehen.
Der alten, uralten, aus den Anfangsphasen der Menschheit datierenden Lehre, dass Böses mit Bösem vergolten werden muss, stellen wir ein anderes Lebensprinzip entgegen: Richtet nicht! Vergeltet nicht! Straft nicht! Belohnt nicht!
Aber trachtet mit aller Kraft, die in Euch ist, eine wahrhaft menschliche Gemeinschaft zu schaffen, in der die Bedingungen für Wachstum und Entwicklung eines jeden gegeben sind: und trachtet, in Euch selbst und anderen das Böse durch das Gute zu besiegen! Nur indirekt kann das Verbrechen bekämpft werden; nicht durch Vernichtung, sondern durch das Wecken von Kräften, durch die Umgestaltung vernichtender Tendenzen in schaffende, aufbauende.
Und darum richten wir uns weder gegen die Auswüchse des Zellensystems und der Gefängnisstrafe, noch nur gegen das Zellensystem selbst – von dessen Schädlichkeit wir übrigens tief überzeugt sind – noch sogar nur gegen unser gegenwärtiges Strafsystem in seiner Totalität. – Wir richten uns gegen das Strafprinzip selbst.
So wie dieses es lehrt, darf das Verhältnis von Mensch zu Mensch nicht sein, so dürfen Menschen einander nicht gegenüberstehen.
Der alten, uralten, aus den Anfangsphasen der Menschheit datierenden Lehre, dass Böses mit Bösem vergolten werden muss, stellen wir ein anderes Lebensprinzip entgegen: Richtet nicht! Vergeltet nicht! Straft nicht! Belohnt nicht!
Aber trachtet mit aller Kraft, die in Euch ist, eine wahrhaft menschliche Gemeinschaft zu schaffen, in der die Bedingungen für Wachstum und Entwicklung eines jeden gegeben sind: und trachtet, in Euch selbst und anderen das Böse durch das Gute zu besiegen! Nur indirekt kann das Verbrechen bekämpft werden; nicht durch Vernichtung, sondern durch das Wecken von Kräften, durch die Umgestaltung vernichtender Tendenzen in schaffende, aufbauende.
Strafrechtsreformen
genügen nicht!
Und
weil die Reformen, die man gegenwärtig im Strafrecht vornimmt, noch
nicht von dieser Idee
getragen werden, darum genügen sein uns nicht. Gewiss war ein
Fortschritt, als man die Jugendgesetzgebung einführte,
gewiss war die bedingte Verurteilung
ein Fortschritt; gewiss wird es eine Verbesserung sein, wenn man die
Gefangenen wenigstens ausreichend ernähren und versorgen und sich
bemühen wird, ihre Widerstandskraft zu erhöhen, anstatt sie, wie
jetzt, ermattet und verblödet aus dem Gefängnis zu entlassen; wenn
man dies Zellensystem abschaffen
wird; wenn das Publikum dem entlassenen Sträfling auf
menschenwürdige Weise entgegenkommt.
Aber durch all diese Reformen innerhalb des Rahmens der heutigen Gesellschaft und des heutigen Strafrechts – innerhalb jener sind sie nicht einmal alle möglich – wird die Quelle des Massenverbrechens nicht verstopft und das alte Strafprinzip wird in seiner Gesamtheit unangefochten belassen.
Aber durch all diese Reformen innerhalb des Rahmens der heutigen Gesellschaft und des heutigen Strafrechts – innerhalb jener sind sie nicht einmal alle möglich – wird die Quelle des Massenverbrechens nicht verstopft und das alte Strafprinzip wird in seiner Gesamtheit unangefochten belassen.
Wir
hingegen kommen nicht zu Euch, ihr Unbescholtenen, um euer Mitleid
mit den Gefangenen zu erregen und um einige armselige Verbesserungen
in der Art und Weise, wie ihr sie, eure Mitmenschen, behandeln wollt,
zu erbitten.
Wir wenden uns an euch, Unbescholtene und Verurteilte, und rufen euch auf zur Wahrung unserer Menschenwürde! Unbescholtene, überprüft eure Gesellschaft und euren Strafbegriff, Angeklagte, Verurteilte, Entlassene, fühlt euch als Menschen!
Wir wenden uns an euch, Unbescholtene und Verurteilte, und rufen euch auf zur Wahrung unserer Menschenwürde! Unbescholtene, überprüft eure Gesellschaft und euren Strafbegriff, Angeklagte, Verurteilte, Entlassene, fühlt euch als Menschen!
Und
vor allem geht es uns um das Folgende: Laß uns doch nicht immer die
Gesinnungsänderung, die „Besserung“ nur von
den Verbrechern verlangen
! Was für eine Gesinnung spricht denn aus unserer Haltung ihnen
gegenüber? Ist hier irgendwelche Opferbereitschaft, irgendwelches
Brüderlichkeitsgefühl?
Es
könnte ja alles so anders sein! In einer wirklichen Gemeinschaft
würde Bereitwilligkeit herrschen, um uns gegenseitig zu helfen,
unsere Verfehlungen zu überwinden; wir würden dafür manch
unmittelbares „Interesse“ ganz selbstverständlich opfern wollen;
wir würden uns gegenseitig zu verstehen und zu stützen suchen. Wir
würden nicht, wie jetzt, vor allem Acht geben auf die „bedrohten
Rechtsgüter“, sondern auf den Menschen,
der mit sich selbst zu kämpfen hat – wir würden uns bewusst sein,
dass es jedes Mal unser
aller Fehler
war, wenn ein Mitmensch in diesem Kampfe unterlag.
Und
deshalb – obwohl wir jede, jedoch nur wirkliche und aufrichtige
Reform, die jetzt im Strafrecht und Strafsystem eingeführt wird,
willkommen heißen – unser
Trachten geht weiter:
wir verlangen radikale Umbildung,
keine teilweise Verbesserung. Wir sehen ein anderes Prinzip tagen:
das einer neuen Zeit, einer geschwisterlichen Menschheit, die immer
mehr mit dem Strafprinzip überhaupt brechen muss.