W.: Ja, G., unser letztes Treffen heute, oder?
G.: Mal sehen, das heutige Thema lautet auf jeden Fall: Sinn und Unsinn von Strafen und dies anhand eines Buches von einem Anstaltsleiter. Er schreibt darin, daß Gefängnisse gesellschaftlicher Unsinn sind und hat inzwischen auch konkrete Alternativen.
W.: Ein wiederkehrendes Thema und Galli hat also nun in aktuellen Interviews bestimmte Ideen entwickelt ..!?
G.: Das Infragestellen des Gefängnisses ist schon etwas Aussergewöhnliches in der jetzigen gesellschaftlichen Situation, wo der Ruf nach immer mehr und immer härteren Strafen lauter wird. Wir haben trotzdem noch einige kritische Anmerkungen an seinen Positionen, der ja in letzter Zeit ziemlich viele Interviews gibt. Für eine bürgerliche Öffentlichkeit ist es schon etwas Besonderes, wenn ein Gefängnisdirektor sagt, Knäste seien gesellschaftlicher Unfug und alle Gefangenen, die in seinem Knast sitzen, die müssten eigentlich sofort entlassen werden. Das ist doch schon ein aussergewöhnlicher Schritt...
W.: Aber das betrifft uns hier nicht so, weil wir wollen schon genauer wissen, was er damit meint. In einem Interview schlägt er konkrete Alternativen vor und diese erscheinen mir doch durchaus diskussionswürdig. So schlägt er z.B.vor, daß viele der Gefangenen -nicht alle, einige will er doch drin lassen oder auf ne Gefängnisinsel bringen – also viele sollen statt Knastzelle elektronische Fussfesseln tragen – um das Sicherheitsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger, die ihm sehr am Herzen liegen, weiterhin befriedigt zu wissen.
G.: Ja, aber schauen wir dort erstmal auf das Positive solcher Vorschläge. Er sagt, 90 % oder mehr könnten nach seiner Sicht sofort raus, also Kleinkriminelle, Diebe, Schwarzfahrerinnen...
W.: .. aber er sagt damit nicht, dass diese Genannten keine Fussfesseln tragen sollen....Stellen wir uns mal folgendes vor: Eine Schwarzfahrerin bleibt zwar draussen in ihrem sozialen Umfeld, muss vielleicht dabei auch die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen und trägt dabei Fussfesseln- wie albern ist das denn?
Steilvorlage für die Hassprediger in Politik und Gesellschaft
G.: Ich habe ihn dabei eigentlich etwas anders verstanden und zwar so, daß er die Fussfesseln für diejenigen vorschlägt, die er zu den „weniger Gefährlichen“ zählt.
W.: Also, die „Gefährlichen“ auf ne Insel, die „weniger Gefährlichen -Fussfesseln, ohne konkret zu sagen, wen er damit meint –um sie draussen zu kontrollieren bzw. kontrollieren zu lassen.Apropos Fussfesseln: ein Paradies für die Hassprediger bei den Politikerinnen und Politiker, die schon seit längerem dies auch für Obdachlose, Demenzbetroffene und – ganz aktuell- für Flüchtlinge empfehlen – für all die Personen,die sie bisher nicht in die Knäste stecken konnten.
Aber gut – fangen wir bei dem Positiven an.
Als ich damals im Knast war, wurde ich aus meinen sozialen Bezügen herausgerissen und mir fehlten danach 3, 4 Jahre um in den sozialen Kontakten irgendwie danach weitermachen zu können. Von daher verstehe ich, wenn auch Gefangene die Idee unterstützen, Fussfesseln zu tragen um damit im alten Umfeld zu bleiben.
G.: Das Problem ist für mich, wir können diese Vorschläge durchaus diskutieren, wenn es eine Alternative wäre. Alle alernativen Vorschläge, die bisher gemacht wurden, sind immer nur eine Ergänzung geworden, d.h. es gab nicht weniger Knastplätze sondern es kamen welche dazu...das mit den neuen und zusätzlichen Strafformen ist ja so neu nun auch nicht...Wenn wir uns die Entwicklung der letzten Jahre angucken, dann wurde eher dazu übergegangen, weniger ganz kurze Strafen zu verhängen und dafür immer mehr so genannte Sozialstunden, d.h. Arbeit als Strafe einzusetzen, das kommt bei Thomas Galli auch sehr häufig vor, Arbeitszwang draussen als neue Strafform einzuführen-- zigtausende von Leuten wurden zu Sozialstunden verurteilt, daß hat aber nicht dazu geführt, daß nun weniger Leute in den Knast kommen...
W.: in dem Zusammenhang müssen wir noch etwas zu dem Buch von Galli sagen: er stellt ja das System von Strafen nicht in Frage, so wenig wie er das was die Gesellschaft unter kriminell“ oder „Kriminalität“ versteht nicht in Frage stellt, für ihn bleiben die jetzigen Abweichler*innen weiterhin kriminell, werden bestraft und sollen bestraft werden, nur die Form hat sich geändert.
Es ist hier ein Spannungsverhältnis : zum einen trennt sich der Staat als Organ mehr und mehr von seinen Aufgaben und Verpflichtungen und schiebt diese in Richtung der Bürgerinnen und Bürger, die dann „selbstbestimm“ und „individuell“ für sich übernehmen sollen. Dadurch ergibt sich dann auch ne bestimmte, veränderte Form der Kontrolle oder der Bestrafung in Richtung „Erziehung“.das also die Abweichlerinnen mit Werten, die diese so genannte Zivilgesellschaft bestimmt, erzogen werden sollen. .. da passen die Fussfesseln, die Sozialstunden, die Arbeits und Leistungsideologie --- und alle die in diese Werteschema nicht reinpassen werden halt aussortiert und weiterhin in Verhältnisse gesteckt oder belassen, die vielleicht manche vielleicht Galli nicht gedacht hatten..
Bedrohungsszenarien z.b. in Köln
G.: Du sprichst die Verschärfung des öffentlichen Raums an..bleiben wir in Köln.. in einem Fernsehbericht eines lokalen Senders wurde Beschwerde darüber geführt, daß Bagatelldelikte zu wenig verfolgt würden und dies ein Klima der Unordnung erzeugt, z.b. ist hier das Lagern auf öffentlichen Plätzen verboten und wer es doch tut,der erzeugt ein Klima der Bedrohung oder wenn die Leute bei Rot über die Ampel gehen, das ist einfach ein Klima der Unordnung und wo Unordnung ist da ist ja auch Kriminalität.
W.: Jetzt werden wir mal ernst. Das Vertreiben von Obdachlosen aus der Öffentlichkeit ist hier in Köln schon länger Praxis, aber seit Silvester 2015 ist in Köln eine Stimmung in der Politik und in den Institutionen entstanden, auch einem Teil der lokalen Medien, die unerträglich geworden ist – von Bürgermeisterin, Polizei und Medien wird fast täglich darüber gesprochen, wie sie das, was Silvester passiert ist, verhindern. Da gibt es einen beständigen Rassismus gegen Flüchtlinge und zum anderen eine Tendenz, alles was in das Bild der Touristenstadt nicht rein passt, noch mal extra zu vertreiben..
G.: Das gesellschaftliche Klima, das jetzt bewusst so gesteuert wird oder so entstanden ist, ist geprägt von ner Bedrohungssituation. Aber wovon fühlen sich die Leute eigentlich bedroht? Vom Flüchtling, von der Bettlerin, die auf der Strasse liegt ? – ich fühle mich von ganz anderen Sachen bedroht, in Köln gibt es 23 000 Wohnungen, die aus Spekulationsgründen leer stehen, während Leute verzweifelt ne Wohnung suchen. Das ist für mich eine reale Bedrohung.Und das sind diesen üblen Werte in dieser Gesellschaft.
W.: Es ist eine grosse Entsolidarisierung, in der jede/r an sich sich selbst, seine Vorteile, ihre Zukunft denkt, das Soziale, dieses Gemeinschaftsgefühl ist was für die Mülltonne, in der wir dann wühlen dürfen.und wenn wir was gefunden haben und an das Gemeinschaftliche appellieren oder auch praktizieren, wird es rigoros ausgetrieben und oder von der Polizei weggeräumt..
G.: Es ist ja auch leichter auf der Suche nach vermeintlichen oder tatsächlichen Sündenböcken sich an Schwächere zu halten. Ist auf jeden Fall einfacher als sich mit den Starken anzulegen, also dem Chef, dem Vermieter usw. den Immobilienkonzernen, sich mit denen anzulegen, das erfordert schon ein wenig Mut
W.: Ja, und jetzt mal wieder zurück zu Leuten wie Galli.. dies alles sollte doch eigentlich dazu führen, dass wir den Begriff der „Kriminalität“ überdenken sollten, was ja da nicht geschieht. Also ein offenes Nachdenken darüber, was „kriminell“ eigentlich ist. Dsa würde inhaltlich sicher mehr verändern
Hartz IV ist kriminell und der Hunger ist Gewalt
G.: Na ja, ein bisschen reflektiert Galli in seinem Buch ja schon, was die gesellschaftlichen Wurzeln
da sind.. so sagt er zu Hartz IV, das sei auch ein Programm zur Förderung von Kriminalität.. es landen überdurchschnittlich viele Hartz IV Bezieherinnen/Bezieher im Knast, weil sie so genannte Straftaten aus reiner Not heraus begehen. Entweder reicht das Geld nicht oder die Sanktionen der Jobcenter, die ja oft mehrere Monate den ganzen Betrag streichen, die Menschen geradezu auffordern, sich „kriminell“ am Leben zu erhalten..
W.: Nun, welche Konsequenzen ziehen wir daraus , im Rahmen einer Strafverschärfung, im Rahmen einer Gesellschaft die immer mehr trennt, immer mehr Leute aussortiert, immer grössere Gräben zieht, müssten wir eigentlich fast dankbar sein für Leute wie Galli, die mit ihren Ideen, ihren scheinbaren Alternativen an die Öffentlichkeit gehen. Ich weiss nicht, dankbar bin ich nicht, wenn ich mir das ganze Elend, was wir gerade erleben, noch mal vergegenwärtige. Ich aber andererseits nicht glaube, daß wir irgendetwas in eben diese Öffentlichkeit bringen können, sind doch ganze andere Leute im Fokus, die, die mit dem Ausweis des so genannten „besserwissenden“ angeblichen Experten ausgestattet sind, dafür haben sie ja studiert, dafür wurden sie ja von dem hiesigen System ausgebildet...
G.: Für mich wäre ein Kriterium, wenn ich mich ernsthaft mit seinen Vorschlägen auseinandersetzen müsste, Stichwort Fussfesseln. Ich würde mich dann für mich für Fussfesseln entscheiden, wenn dafür auf der anderen Seite ein Knastplatz gestrichen würde
W.: Die bedauernswerte Knastindustrie...
.
G.: Nicht mein Problem.. aber überleg doch mal, jedes Jahr werden rd. 500 000 junge Leute wegen Drogenbesitz verurteilt
W.: Also wäre es doch das erste, beim Umdenken, was Galli und andere fordern, eine Entkriminalisierung, soll heissen, so genannte Delikte wie Diebstahl, Drogenbesitz oder auch Schwarzfahren einfach aus dem Strafgesetzbuch zu streichen